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MATHILDE

Die Familie von Stefanie Haynes, 2007.

Foto: Stefanie Haynes / Wikimedia Commons

Polyamory Pride Walk in San Francisco, 2004.

Foto: Pretzelpaws / Wikimedia Commons

Mehrgenerationenhaus "Haus der Zukunft" in Bremen-Blumenthal, 2011.

Foto: Donnie Dirko / Wikimedia Commons

Carrie Bradshaws Haus in der Serie "Sex in the City" in Manhattan, New York, 2005.

Foto: Rob Young / Wikimedia Commons

Jenseits der Kleinfamilie

Lebensentwürfe im 21. Jahrhundert

Die Vorstellungen, die wir heute mit dem Begriff "Lebensentwurf" verbinden, setzen etwas voraus, was nicht selbstverständlich ist: Wahlfreiheit in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung, das heißt, sich für einen schulischen und beruflichen Weg und eine Lebensform, allein oder in Gemeinschaft, mit oder ohne Kinder, entscheiden zu können. In vielen Teilen der Welt sind vor allem Mädchen und Frauen nach wie vor gezwungen zu heiraten und Kinder zu gebären, sei es um das blanke Überleben oder ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das patriarchale Familien- und Frauenbild in den meisten Ländern der Erde und die damit verbundenen gesellschaftlichen Rollenzwänge lassen für Frauen vielfach nicht sehr viel Raum für eigenständige Entscheidungen außerhalb des traditionellen Rollenbildes. Eltern und Groß-Familie üben oft einen bestimmenden Einfluss auf den Lebensweg vor allem der Frauen aus.

WAS BEDEUTET WAHLFREIHEIT?

In Westeuropa wird die Ehe als Lebensform besonders gefördert und die Familie als idealer Raum der Kindererziehung gegenüber anderen Lebensformen materiell privilegiert. Die aktuelle Lebenswirklichkeit hat sich allerdings bereits von der Ehe als "staatlich geförderter Idealform des Zusammenlebens" ein erhebliches Stück entfernt. Heute leben weniger als die Hälfte aller Deutschen in einer Familie oder familienähnlichen Lebensgemeinschaft, und nur 70 Prozent der Eltern sind verheiratet. Der Prozentsatz von homo- und heterosexuellen Lebensgemeinschaften, die ohne "Trauschein" zusammenleben, hat sich in den letzten zehn Jahren von fünf auf heute zehn Prozent erhöht. Rund 20 Prozent der Deutschen leben allein. Können junge Frauen, die Kinder haben möchten, hierzulande wirklich völlig frei wählen, wie sie ihr Leben gestalten wollen? Der Mythos von der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben scheint diesen Schluss nahezulegen. Tatsache ist jedoch, dass die Verantwortung für die Erziehung der Kinder und ein Großteil der Hausarbeit nach wie vor von Frauen getragen werden. Gleichzeitig noch im Beruf erfolgreich zu sein, ist nicht leicht und gelingt vor allem jenen, die bereits eine oder mehrere Karrierestufen erklommen haben. Die Daten des Mikrozensus 2011 bestätigen, dass Beruf und Familie für Frauen nach wie vor schwer vereinbar sind. So sind alleinlebende Frauen häufiger in Führungspositionen anzutreffen als Nicht-Alleinlebende: Der Anteil liegt hier bei 17 zu 13 Prozent. Männer hingegen scheinen besonders mit einem familiären Hintergrund erfolgreich zu sein. So hatten 26 Prozent der Männer mittleren Alters in einem Mehr-Personen-Haushalt eine Führungsposition inne. Bei den Alleinlebenden lag die Quote um fünf Prozent niedriger.

KIND(ER) – UND WAS DANN?

Der Erwartungsdruck, der auf jungen Frauen lastet, bald nach der Heirat auch Kinder zu bekommen, ist auch hierzulande hoch. Im Zusammenspiel mit der durchschnittlich um 20 Prozent schlechteren Bezahlung von Frauen und ihren im Schnitt ungünstigeren beruflichen Karriereprognosen, ist es mehr als fraglich, ob die Voraussetzungen für eine - auch materielle – Wahlfreiheit wirklich gegeben sind, vor allem dann, wenn der Arbeitsmarkt eng ist. Ihre Ehemänner haben meist nicht nur den höheren Verdienst, sondern auch die besseren Karten beim Poker um attraktivere und besser bezahlte Positionen. Die Frauen, die sich Kinder wünschen, können fast gar nicht anders, als sich auf (faule) Kompromisse in ihrer Lebensgestaltung einzulassen, die sie bei unglücklichem Verlauf als Individuum deutlich gegenüber dem männlichen Partner benachteiligen. Sie tauschen das Familien- und Kinderglück im günstigsten Fall gegen einen vorübergehenden Karriereknick, im Schlimmsten gegen ein erhebliches Armutsrisiko, sei es durch Scheidung, plötzlichen Tod des Ehemanns oder Auseinanderleben. Oft bleiben sie dann auch noch mit der Verantwortung für die Erziehung des Kindes bzw. der Kinder allein.

ALLEINLEBEN – FREIE WAHL ODER AUS DER NOT GEBOREN?

Interessant ist, dass das Zusammenleben als Paar oder Familie als völlig selbstverständlich gilt, wohingegen Alleinlebende, die sich für diese Lebensform entschieden haben und nicht "schicksalsbedingt" allein leben, oft den Eindruck haben, sich für ihr Lebensmodell rechtfertigen zu müssen. Sind die Alleinlebenden nicht beziehungsfähig? Oder nicht attraktiv genug? Haben sie einen persönlichen oder körperlichen Makel? Wollen sie nicht mit anderen teilen; sind sie also selbstsüchtig? Manchmal scheint auch ein bisschen Neid auf: Leben sie im Luxusapartment mit begehbarem Kleiderschrank wie Carrie Bradshaw in "Sex and the City" und führen ein freies und wildes Leben? Vermutlich nichts von alledem. In aller Regel sind die aus freien Stücken Alleinlebenden Menschen, die etwas mit sich selbst anfangen können und Bedürfnisse wichtig nehmen, für deren Erfüllung ein Rückzugsort und Alleinsein notwendig sind. Künstlerische Ambitionen, die intensive Beschäftigung mit besonderen Interessen, die im Alltag sonst keinen Platz haben, spirituelle oder religiöse Bedürfnisse können Auslöser für diese Entscheidung sein. Auch der Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit und sexueller Freizügigkeit kann dahinter stehen. Es sind Frauen und Männer, die keine eigenen Kinder haben möchten und in ihrem Leben andere Schwerpunkte setzen wollen. Sie sind eher freiheitsliebend insofern sie zwar für ihren Lebensunterhalt sorgen, aber im Übrigen nach ihrer eigenen Vorstellung glücklich werden wollen. Das schließt Liebesbeziehungen, Partnerschaften, freundschaftliche Beziehungen und Engagement in allen möglichen Vereinen und Gruppierungen nicht notwendigerweise aus, sondern überwiegend ein. Alleinlebende, die sich bewusst für diese Lebensform entschieden haben, sind selten einsam, sondern meistens eingebunden in ein Netz vielfältiger und unterschiedlicher sozialer Beziehungen. Was die Filmvision einer Carrie Bradshaw allerdings von der Wirklichkeit unterscheidet, ist das deutlich höhere Armutsrisiko, das Alleinlebende tragen. Die meisten sind nicht Wohnungs- oder Hauseigentümer, sondern leben zur Miete. Wobei ihre Mietbelastung deutlich höher ist als die von Mehr-Personen- Haushalten: Bei Alleinlebenden verschlingen die Wohnungskosten 26 Prozent des Einkommens, bei Haushalten ab zwei Personen liegt der Anteil bei 20 Prozent und weniger, so die Statistik (2011). Ihre Armutsgefährdungsquote liegt mit 30 Prozent fast doppelt so hoch wie die Quote für den Bundesdurchschnitt. Einzig Alleinerziehende sind noch gefährdeter (43 Prozent). Eines haben Alleinlebende hierzulande allerdings mit der Serienfigur Bradshaw gemeinsam: Für sie wie auch für viele Deutsche scheint das "Single-Dasein" eine Altersfrage zu sein. Bis 27 Jahre steigt der Anteil der Alleinlebenden, doch mit zunehmendem Alter scheinen Unabhängigkeit und Freiheit ihren Reiz zu verlieren: Die Zahl Alleinlebender sinkt, dafür steigt der Anteil an Mehr-Personen- Haushalten.

NEUERE FORMEN DES ZUSAMMENLEBENS

Die Lebenswege und -entwürfe von Frauen, aber auch von Männern, werden immer individueller und vielfältiger. Damit multiplizieren sich auch die Entscheidungen in Bezug auf Lebensweisen, Partnerschaften und Wohnformen. Familien, Paare, Alleinlebende und Freundeskreise suchen immer häufiger nach neuen Formen des Zusammenlebens: weg von den anonymen und zufällig zusammengewürfelten Wohnanlagen hin zu Nachbarschaften, die bewusst gewählt und gewollt sind, sei es im Mehrgenerationen- Wohnen, in studentischen Wohnanlagen, in Alters-WGs, Seniorenwohnanlagen oder in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, die sich über eine Projektplanung gefunden haben. Ob Menschen allein, zu zweit oder in der Familie leben, spielt in generationenübergreifenden Wohnprojekten oder selbstgewählten Nachbarschaften eigentlich keine so große Rolle mehr, denn je vielfältiger und enger die Beziehungen zwischen den Bewohnern sind, desto eher können Einseitigkeiten der Lebensführung vermieden und vielfältigere Möglichkeiten der Lebensgestaltung und -erfahrung erschlossen werden. Man darf gespannt sein, welche neuen Formen der Selbst- und Wohnorganisation aus diesen Versuchen noch hervorgehen werden.

Text: Gerlind Sommer

 

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