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One-Billion-Rising in Darmstadt am 14. Februar 2014 mit der Darmstädter Frauenbeauftragten Edda Fees (vorne links). Foto: Jutta Schütz

Gespenstisch oder visionär?

Frauenbewegung und Feminismus heute

Ein Gespenst geht um... in Europa und in der Welt – das Gespenst des Feminismus." So könnte der Anfang eines "Feministischen Manifests" lauten, wollte die Frauenbewegung international übergreifende Ziele und Vorstellungen für das 21. Jahrhundert formulieren. Ein Manifest, das nicht minder revolutionär wäre wie das "Kommunistische Manifest" zu seiner Zeit. Die Frauenbewegung versteht sich als soziale Menschenrechtsbewegung und zielt nach wie vor auf grundlegende Veränderungen ab, auf gerechte Gesellschaftsordnungen, ohne Entrechtung, Entwertung, Vergewaltigung, Verstümmelung und Ermordung von Frauen, wie es in vielen Regionen der Welt immer noch tagtäglich geschieht. Sie tritt für die Menschenrechte der Frauen und für ein menschenwürdigeres Leben für beide Geschlechter gleichermaßen ein. Sie ist nicht mehr eine überwiegend europäische oder amerikanische Bewegung, sondern in allen Ländern aktiv und international vernetzt. Die Weltfrauenkonferenzen der Vereinten Nationen seit 1975 und die 2010 neu errichtete Organisation der "UN Frauen" legen davon Zeugnis ab. Die Erfolge der sogenannten ersten und zweiten Welle der Frauenbewegung zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts, die für die gleichen Rechte für Frauen, für gleiche Bildungs- und Berufschancen und das Aufbrechen traditioneller, biologistisch begründeter Geschlechtsrollenzuschreibungen eingetreten sind, bilden die Grundlage, auf der in Europa und den USA eine eher heterogene "dritte" und sogar schon eine "vierte" Welle des Feminismus entstanden sind.

Die "dritte Welle" – vernetzt und aktivistisch

Kennzeichnend für die "dritte Welle" seit den 1990er Jahren ist die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit der Frauengruppen und eine Vielfalt spektakulärer Aktionen und Demonstrationen, die eine Öffentlichkeit für die Gewalt hergestellt haben, die gegenüber Frauen weltweit ausgeübt wird und die oft aus Scham oder falscher Rücksicht auf die Täter "unter der Decke" geblieben ist. Die "Slutwalks", bei denen es um die Wahrung der sexuellen Integrität der Frauen geht – unabhängig von ihrem wie auch immer als sexy, aufreizend oder freizügig empfundenen Outfit - gehören dazu, "One Billion Rising" und die Femen-Aktionen. Der weltweiten Aktion "One Billion Rising" für eine Ende der Gewalt an Mädchen und Frauen ist es gelungen, ein sensationelles Medienecho zu erzielen, das über den Tag hinaus trägt und ein wichtiger Schritt zur Veränderung der Wahrnehmung und Sanktionierung der "Gewaltkultur" gegenüber Frauen in vielen Ländern sein kann. Neu ist in dieser "dritten Welle" auch die Ablehnung der starren und starken Abgrenzung von Männern, die aus der autonomen Frauenbewegung stammt. Männer werden nun viel stärker als Bündnispartner wahrgenommen, mit der Folge, dass sich auch immer mehr Männer für feministische Anliegen einsetzen und sich an feministischen Aktionen beteiligen. Dieser Trend setzt sich auch in der Solidaritätsaktion "HeForShe" fort, in der Männer eingeladen sind, sich für Geschlechtergerechtigkeit in Wort und Tat einzusetzen.

"Backlash" oder das Ende des Feminismus?

Wo Erfolge erzielt wurden, sind die Neider und Gegner meist nicht fern. Das gilt auch für die Frauenbewegung in Deutschland, die in den Institutionen angekommen ist, in Politik und Verwaltung mit Frauenministerien, -beauftragten oder Gleichstellungsstellen und dem Gender Mainstreaming, an den Universitäten mit den "Women Studies" und in der aktuellen deutschen Rechtsordnung mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Bereits seit den 1970er Jahren gibt es die aggressiv gegen die Emanzipationsbestrebungen der Frauen gerichtete Bewegung des Maskulismus sowie eine breite neoliberale Front von Publizisten und "Postfeministinnen", die in renommierten Tages- und Wochenzeitungen das Ende des Feminismus verkünden. Apologetinnen des neoliberalen Frauenbilds sagen, es gehöre zu den Wahlfreiheiten, die die Frauenbewegung geschaffen habe, berufstätig oder eben auch glückliche Hausfrau und Mutter zu sein und werben für dieses Lebensmodell. Auf der anderen Seite stehen jene, die behaupten, dass nunmehr gleiche Rechte und Chancen in Wirtschaft und Gesellschaft für Frauen bestünden, es somit der an der individuellen Verantwortung und Leistungsfähigkeit jeder Frauen liege, das Beste daraus zu machen. Noch weiter gehen jene Publizisten, die Männer als Verlierer der Genderpolitik darstellen, als ihre eigentlichen "Opfer". Ein aktuelles Beispiel aus der Zeitung, hinter der – so die Werbung – immer ein kluger Kopf stecke: "Der gestresste Mann. Deutschland fördert Frauen mit der Quote und schützt Minderheiten vor Diskriminierung. Aber wer kümmert sich eigentlich um die tatsächlichen Leidtragenden der Arbeitswelt?" (Tim Farin in der FAS vom 8./9.11.2014). Die Politik habe sich "die Stärkung der Frau in der Arbeitswelt zum Ziel gesetzt, die Bundeskanzlerin hat die Einführung der gesetzlichen Frauenquote für Führungspositionen zur Chefinnensache gemacht." Auch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz schütze "so ziemlich alle Akteure in der Arbeitswelt, nur eine Spezies nicht: den gemeinen Mann", so der Autor in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Was hat Stress am Arbeitsplatz mit Diskriminierungsverbot, Minderheitenschutz und Quotenregelung zu tun? Gar nichts. Die Verknüpfung von beiden Themen dient aber dazu, Stimmung zu machen, gegen Frauen und Minderheiten. Schlimm ist: diese intrigante Vernebelung gemeinsamer Interessen von Frauen und Männern dient der Normalisierung eines gegen vermeintlich Schwächere gerichteten Affekts, einem "Sündenbockdenken", welches demagogisch ausbeutbar ist. Richtig ist: unter krankmachendem Stress im Berufsleben leiden Frauen und Männer gleichermaßen; sie sitzen in einem Boot, wenn es darum geht, die Art und Weise zu verändern, wie produktive und reproduktive Arbeit in Wirtschaft und Gesellschaft bewertet, verteilt und honoriert werden. Die zunehmende Virtualisierung und Entsinnlichung der produktiven Arbeit in der Informationsgesellschaft erfordert ein Gegengewicht im sozialen, kulturellen und zwischenmenschlichen Miteinander, jenseits von Geschlechtszuschreibungen. Das Bedürfnis nach diesem Ausgleich für die Einseitigkeit beruflicher Anforderungen artikulieren gestresste Männer und Frauen in gleicher Weise, und sie können es auch gemeinsam vertreten.

Die "vierte Welle" und postpatriarchaler Feminismus

"Backlash"- und postfeministische Standpunkte übersehen, dass sie in starren Alternativen denken, die die aktuelle Frauenbewegung überwinden möchte. Es geht – zumindest in der modernen Informationsgesellschaft – nicht mehr nur darum, dafür zu sorgen, dass Frauen im Beruf genauso "ihren Mann stehen können" wie Männer oder dass sie als "Managerin des erfolgreichen Kleinunternehmens Familie" reüssieren. Die "vierte Welle" und der postpatriarchale Teil der Frauenbewegung zielen in unterschiedlicher Intensität darauf ab, alle Festlegungen von Geschlechterbildern aufzulösen und die Wahrnehmung von produktiven und reproduktiven Aufgaben in der Gesellschaft so zu verändern, dass echte individuelle Wahlfreiheit für Frauen und Männer besteht, die nicht an "gläsernen" Decken oder in der Armutsfalle endet. Zugleich besteht der starke Wunsch, gemeinsam mit Männern für diese Ziele zu arbeiten und aktiv zu sein. Die Herstellung ideeller und materieller Wahlfreiheit setzt jedoch eine deutliche Veränderung von Bewertungen und Honorierungen von Erwerbsarbeit und von Familien- und Fürsorgearbeit voraus. Dies aber rüttelt an den Grundfesten unserer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung und enthält somit eine Vision von einer dem Menschen gemäßen Informations- und High- Tech-Gesellschaft in der Zukunft.

Text: Gerlind Sommer

Zum Stöbern und Weiterlesen:
www.antjeschrupp.de
diestoerenfriedas.de
netzfeminismus.org
maedchenmannschaft.net

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