Gespenstisch oder visionär?
Frauenbewegung und Feminismus heute
Ein Gespenst geht um... in Europa und
in der Welt – das Gespenst des Feminismus."
So könnte der Anfang eines "Feministischen
Manifests" lauten, wollte die
Frauenbewegung international übergreifende
Ziele und Vorstellungen für das 21.
Jahrhundert formulieren. Ein Manifest,
das nicht minder revolutionär wäre wie
das "Kommunistische Manifest" zu seiner
Zeit. Die Frauenbewegung versteht sich
als soziale Menschenrechtsbewegung
und zielt nach wie vor auf grundlegende
Veränderungen ab, auf gerechte Gesellschaftsordnungen,
ohne Entrechtung,
Entwertung, Vergewaltigung, Verstümmelung
und Ermordung von Frauen, wie
es in vielen Regionen der Welt immer
noch tagtäglich geschieht. Sie tritt für die
Menschenrechte der Frauen und für ein
menschenwürdigeres Leben für beide
Geschlechter gleichermaßen ein. Sie ist
nicht mehr eine überwiegend europäische
oder amerikanische Bewegung, sondern
in allen Ländern aktiv und international
vernetzt. Die Weltfrauenkonferenzen
der Vereinten Nationen seit 1975 und
die 2010 neu errichtete Organisation der
"UN Frauen" legen davon Zeugnis ab.
Die Erfolge der sogenannten ersten
und zweiten Welle der Frauenbewegung
zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts,
die für die gleichen Rechte für Frauen,
für gleiche Bildungs- und Berufschancen
und das Aufbrechen traditioneller,
biologistisch begründeter Geschlechtsrollenzuschreibungen
eingetreten sind,
bilden die Grundlage, auf der in Europa
und den USA eine eher heterogene "dritte"
und sogar schon eine "vierte" Welle
des Feminismus entstanden sind.
Die "dritte Welle" – vernetzt
und aktivistisch
Kennzeichnend für die "dritte Welle" seit
den 1990er Jahren ist die internationale
Vernetzung und Zusammenarbeit der
Frauengruppen und eine Vielfalt spektakulärer
Aktionen und Demonstrationen,
die eine Öffentlichkeit für die Gewalt hergestellt
haben, die gegenüber Frauen
weltweit ausgeübt wird und die oft aus
Scham oder falscher Rücksicht auf die Täter
"unter der Decke" geblieben ist. Die
"Slutwalks", bei denen es um die Wahrung
der sexuellen Integrität der Frauen
geht – unabhängig von ihrem wie auch
immer als sexy, aufreizend oder freizügig
empfundenen Outfit - gehören dazu,
"One Billion Rising" und die Femen-Aktionen.
Der weltweiten Aktion "One Billion
Rising" für eine Ende der Gewalt an
Mädchen und Frauen ist es gelungen, ein
sensationelles Medienecho zu erzielen,
das über den Tag hinaus trägt und ein
wichtiger Schritt zur Veränderung der
Wahrnehmung und Sanktionierung der
"Gewaltkultur" gegenüber Frauen in vielen
Ländern sein kann. Neu ist in dieser
"dritten Welle" auch die Ablehnung der
starren und starken Abgrenzung von
Männern, die aus der autonomen Frauenbewegung
stammt. Männer werden
nun viel stärker als Bündnispartner wahrgenommen,
mit der Folge, dass sich auch
immer mehr Männer für feministische
Anliegen einsetzen und sich an feministischen
Aktionen beteiligen. Dieser Trend
setzt sich auch in der Solidaritätsaktion
"HeForShe" fort, in der Männer eingeladen
sind, sich für Geschlechtergerechtigkeit
in Wort und Tat einzusetzen.
"Backlash" oder das Ende
des Feminismus?
Wo Erfolge erzielt wurden, sind die Neider
und Gegner meist nicht fern. Das gilt auch
für die Frauenbewegung in Deutschland,
die in den Institutionen angekommen ist,
in Politik und Verwaltung mit Frauenministerien,
-beauftragten oder Gleichstellungsstellen
und dem Gender Mainstreaming,
an den Universitäten mit den "Women
Studies" und in der aktuellen
deutschen Rechtsordnung mit dem Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz.
Bereits seit den 1970er Jahren gibt es
die aggressiv gegen die Emanzipationsbestrebungen
der Frauen gerichtete Bewegung
des Maskulismus sowie eine
breite neoliberale Front von Publizisten
und "Postfeministinnen", die in renommierten
Tages- und Wochenzeitungen
das Ende des Feminismus verkünden.
Apologetinnen des neoliberalen Frauenbilds
sagen, es gehöre zu den Wahlfreiheiten,
die die Frauenbewegung geschaffen
habe, berufstätig oder eben
auch glückliche Hausfrau und Mutter zu
sein und werben für dieses Lebensmodell.
Auf der anderen Seite stehen jene,
die behaupten, dass nunmehr gleiche
Rechte und Chancen in Wirtschaft und
Gesellschaft für Frauen bestünden, es somit
der an der individuellen Verantwortung
und Leistungsfähigkeit jeder Frauen
liege, das Beste daraus zu machen.
Noch weiter gehen jene Publizisten, die
Männer als Verlierer der Genderpolitik
darstellen, als ihre eigentlichen "Opfer".
Ein aktuelles Beispiel aus der Zeitung,
hinter der – so die Werbung – immer ein
kluger Kopf stecke: "Der gestresste Mann.
Deutschland fördert Frauen mit der Quote
und schützt Minderheiten vor Diskriminierung.
Aber wer kümmert sich eigentlich
um die tatsächlichen Leidtragenden
der Arbeitswelt?" (Tim Farin in der FAS
vom 8./9.11.2014). Die Politik habe sich
"die Stärkung der Frau in der Arbeitswelt
zum Ziel gesetzt, die Bundeskanzlerin hat
die Einführung der gesetzlichen Frauenquote
für Führungspositionen zur Chefinnensache
gemacht." Auch das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz schütze "so
ziemlich alle Akteure in der Arbeitswelt,
nur eine Spezies nicht: den gemeinen
Mann", so der Autor in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung.
Was hat Stress am Arbeitsplatz mit Diskriminierungsverbot,
Minderheitenschutz
und Quotenregelung zu tun? Gar nichts.
Die Verknüpfung von beiden Themen
dient aber dazu, Stimmung zu machen,
gegen Frauen und Minderheiten.
Schlimm ist: diese intrigante Vernebelung
gemeinsamer Interessen von Frauen
und Männern dient der Normalisierung
eines gegen vermeintlich Schwächere
gerichteten Affekts, einem
"Sündenbockdenken", welches demagogisch
ausbeutbar ist.
Richtig ist: unter krankmachendem
Stress im Berufsleben leiden Frauen und
Männer gleichermaßen; sie sitzen in einem
Boot, wenn es darum geht, die Art
und Weise zu verändern, wie produktive
und reproduktive Arbeit in Wirtschaft
und Gesellschaft bewertet, verteilt und
honoriert werden. Die zunehmende Virtualisierung
und Entsinnlichung der produktiven
Arbeit in der Informationsgesellschaft
erfordert ein Gegengewicht im
sozialen, kulturellen und zwischenmenschlichen
Miteinander, jenseits von
Geschlechtszuschreibungen. Das Bedürfnis
nach diesem Ausgleich für die
Einseitigkeit beruflicher Anforderungen
artikulieren gestresste Männer und Frauen
in gleicher Weise, und sie können es
auch gemeinsam vertreten.
Die "vierte Welle" und
postpatriarchaler Feminismus
"Backlash"- und postfeministische Standpunkte
übersehen, dass sie in starren Alternativen
denken, die die aktuelle Frauenbewegung
überwinden möchte. Es
geht – zumindest in der modernen Informationsgesellschaft
– nicht mehr nur darum,
dafür zu sorgen, dass Frauen im Beruf
genauso "ihren Mann stehen können"
wie Männer oder dass sie als "Managerin
des erfolgreichen Kleinunternehmens Familie"
reüssieren. Die "vierte Welle" und
der postpatriarchale Teil der Frauenbewegung
zielen in unterschiedlicher Intensität
darauf ab, alle Festlegungen von
Geschlechterbildern aufzulösen und die
Wahrnehmung von produktiven und reproduktiven
Aufgaben in der Gesellschaft
so zu verändern, dass echte individuelle
Wahlfreiheit für Frauen und Männer
besteht, die nicht an "gläsernen"
Decken oder in der Armutsfalle endet.
Zugleich besteht der starke Wunsch, gemeinsam
mit Männern für diese Ziele zu
arbeiten und aktiv zu sein. Die Herstellung
ideeller und materieller Wahlfreiheit
setzt jedoch eine deutliche Veränderung
von Bewertungen und Honorierungen
von Erwerbsarbeit und von Familien- und
Fürsorgearbeit voraus. Dies aber rüttelt
an den Grundfesten unserer Wirtschaftsund
Gesellschaftsordnung und enthält
somit eine Vision von einer dem Menschen
gemäßen Informations- und High-
Tech-Gesellschaft in der Zukunft.
Text: Gerlind Sommer
Zum Stöbern und Weiterlesen:
www.antjeschrupp.de
diestoerenfriedas.de
netzfeminismus.org
maedchenmannschaft.net
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