Mit dem Schleier unterm Helm unterwegs
Radfahren ist für Frauen in Afghanistan tabu.
Manche trauen sich doch.
Wenn sie sich aufs Fahrrad schwingen,
müssen sie staubige Schotterstraßen
oder entlegene Pfade einschlagen,
um nicht gesehen oder beschimpft
zu werden, und das bei einer Temperatur
von über 30 Grad im Schatten in einem
langärmeligen Shirt, damit die Handgelenke
abdeckt sind. Und sie müssen stets
in männlicher Begleitung sein, um sich
außerhalb des Hauses frei bewegen zu
dürfen. Aber diese Bürden nehmen die
Radlerinnen in Afghanistan gerne auf
sich, um überhaupt Rad fahren zu können.
Denn in muslimisch geprägten Ländern
ist das Radfahren für Frauen tabu –
generell sind sie in ihrer Mobilität stark
eingeschränkt. Ihnen wird gesagt, dass
sie unfruchtbar werden, wenn sie das
Rad nutzen.
Protest oder nur etwas,
das Spaß macht?
Shannon Galpin, US-Amerikanerin, radelt
als Frauenrechtlerin durch Afghanistan.
Sie gründete 2006 die Wohltätigkeitsorganisation
Mountain2Mountain,
um Frauen in Konfliktzonen weltweit zur
Seite zu stehen. Neben anderen Projekten
unterstützt sie das Frauen-Radnationalteam
Afghanistans, welches mittlerweile
50 Frauen zählt. Es ist ein im Land
selbst gewachsenes Projekt – die Tochter
eines früheren afghanischen Radsportlers
und heutigen Trainers des Teams, Abdul
Sadiq, überzeugte ihren Vater, Radfahren
zu lernen. Und obwohl es sicherlich
noch ein weiter Weg zur
Gleichstellung von Männern und Frauen
in diesem Land ist, hat sich Galpin zum
Ziel gesetzt, dass Radlerinnen zur Normalität
werden, statt mit Steinen beworfen
zu werden. Regelmäßig fliegt sie
nach Kabul und bringt den Afghaninnen
Rennräder, Helme und sogar eigene Trikots
mit, die sie über Spenden und Projektsponsoren
erhält.
Radfahrende Frauen können im Gefängnis
landen, da Radeln nur eine Stufe
unter den Sittenverbrechen steht – es ist
also vergleichsweise ein genauso schweres
Vergehen wie der Versuch, einer arrangierten
Ehe zu entfliehen. Was nach
Rebellion aussieht, hat oft andere, simplere
Beweggründe: Die vermeintlichen
Regimegegnerinnen tun es, weil es ihnen
Freude bereitet. Für sie ist es ein
Hobby, dem sie aus Lust am Wettkampf,
um ihrer Gesundheit willen oder einfach
aus Spaß nachgehen. Und obwohl sie
sich selten darüber Gedanken machen,
dass sie stets die kulturellen Grenzen
zwischen den Geschlechtern überschreiten,
sind sie sich dessen bewusst, dass sie
längst überholte Konventionen brechen
- in einem Land in dem Frauen weder alleine
auf die Straße, noch Rad oder Auto
fahren dürfen. Mit Sammeltaxis nur für
Frauen werden sie zur Arbeit gefahren.
Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts sagte
Susan B. Anthony, amerikanische Feministin
und Frauenrechtlerin, dass das
Radfahren für die Emanzipation der Frau
mehr getan hat als irgendetwas anderes
auf dieser Welt. Es gebe Frauen ein Gefühl
von Freiheit und Selbstvertrauen.
Am Beispiel der afghanischen Radsportlerinnen
wird das gewachsene Selbstvertrauen
und das Streben nach Freiheit
deutlich.
Olympiade
als Ziel
Afghanistan ist alles andere als eine stabile
Region. Niemand kann mit Sicherheit
sagen, wie die Zukunft aussehen
wird, besonders nach dem Abzug der
Nato-Soldaten. Es bleibt zu hoffen, dass
die jungen Sportlerinnen bei den nächsten
Olympischen Spielen 2016 in Rio de
Janeiro unter der afghanischen Flagge
antreten können. Trotz des Fahrverbotes
und drohender Gefängnisstrafe trainiert
die Frauenmannschaft für Olympia und
misst sich regelmäßig unter anderem
mit ihren Konkurrentinnen in und aus
dem Nachbarland Pakistan. Die Frauen
möchten, dass ihr Land und vor allem
die Männer genauso stolz sein werden
wie sie selbst, wenn sie die afghanische
Flagge in das Stadion tragen. Damit würden
sie der Welt eine andere Seite Afghanistans
und gleichzeitig ihrem Land ein
anderes Bild von Frauen als Sportlerinnen
zeigen. Allein die Teilnahme an den
Spielen würde für die Frauen vieles verändern.
Text: Anika Müller
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