Und singen kann sie auch? – Der Anspruch an Sängerinnen hat sich gewandelt
Die junge Frau ist fast nackt. In hautfarbener
Lack-Unterwäsche posiert
sie sexy mit einem aufblasbaren Riesenfinger,
dann bückt sie sich nach vorne
und streckt ihren Hintern empor. Einem
Mann entgegen, der ganz eng – und
selbst mit einem schicken Anzug bekleidet
– hinter ihr steht. Sie reibt ihr Gesäß
an ihm, während sie der grölenden Menge
die Zunge zeigt. Ganz klar: die Frau ist
Sängerin! Und das hier ist ein ganz normaler
Auftritt, wie er gerade üblich ist.
Die Selbstdarstellung von Künstlerinnen
hat sich in den letzten Jahrzehnten stark
gewandelt. Wo sind die Zeiten hin, in denen
auf einer Bühne nur ein Hocker und
ein Mikro standen? Weil die Sängerinnen
nicht performten und strippten, sondern
einfach nur... sangen?
Die Wende kam schleichend. Musikauftritte
aus den 1970ern haben rückblickend
noch den unschuldigen Hauch von
Heimvideos. Eine einzige Kameraperspektive
auf eine gestylte, aber noch
glaubwürdig echt aussehende Frau gerichtet.
Meist gab es nicht mal ein Bühnenbild,
und die Frau machte nichts anderes
als zu singen. Heute scheint der Gesang
das kleinste Problem einer Sängerin
zu sein. Unzählige Kameras fahren bei
Live-Auftritten um sie herum, während
die Künstlerin auf mindestens einer räumlichen
Ebene das gigantische Bühnenbild
durchturnt. Begleitet von TänzerInnen,
die sie herumwirbeln und betatschen.
Wenn sie das nicht selbst schon erledigt.
Vielleicht deutet sie hier und da ein paar
sexuelle Handlungen an, fasst sich in den
Schritt oder reitet auf einem aufblasbaren
Riesendildo. Während der ganzen Turnerei
singt sie noch ein bisschen.
Mit hohen Stiefeln und Peitsche
Miley Cyrus hat all das Beschriebene getan,
viele andere machen es ihr gleich.
Der Druck, sich auf der Bühne auf jede erdenkliche
Weise zu entblößen, muss immens
sein. Und kommt sicher nicht von
den Sängerinnen allein. Oder hat Britney
Spears wirklich Freude daran, sich öffentlich
in Reizwäsche zu zeigen, die ihr eher
eine Nummer zu klein scheint? Bei ihrer
Circus-Tour stolziert sie mit Lederpeitsche
und hohen Stiefeln über die Bühne,
fesselt einen Zuschauer an eine Stange
und absolviert die volle Erotikshow. Singend
natürlich, da war ja noch was.
Im Grunde kann es uns egal sein. Wir
wissen ja, dass es auch sie noch gibt, die
Bekleideten mit den künstlerisch wertvolleren
Auftritten und den echteren
Körpern. Sie sind aber medial nicht so aggressiv
präsent wie die Anderen. Und es
gibt Zielgruppen, die noch nicht gelernt
haben, dieses nicht so Präsente, aber
Echte für sich herauszufiltern. Die Jüngeren,
die durch das, was ihnen am offensivsten
vor die Augen gesetzt wird, die
scheinbaren Regeln lernen. Und die sind
hier schnell gelernt: Nackt sind immer
die Frauen, die vollbekleideten Männer
daneben lassen sie nur noch nackter erscheinen.
In Duetten singen beide das
gleiche Lied, bloß dass sie nebenher
noch eine Erotikshow absolviert, eine Ledermaske
trägt oder im Käfig turnt. Bei
ihm reicht es doch, dass er singt. Sie muss
auch noch geil aussehen dabei. Und geil
ist das, was du da siehst. Was in so gut
wie keinem Fall dem Körper entspricht,
den dir dein Spiegel zeigt. Zeigen musst
du trotzdem alles. Mag sein, die meisten
wissen, wie all das zu bewerten ist.
Wer aber das nächste Mal eine Vierzehnjährige
sieht, die ein Outfit trägt,
bei dem mehr rausquillt als drin steckt,
sollte nicht lachen. Weil das Mädchen
ein Schönheitsideal zu erfüllen versucht,
das sie ständig im Fernsehen
sieht und an dem sie von den Jungs, für
die sie schwärmt, gemessen wird. Und
weil sie für den Versuch, diesen Vorbildern
nachzueifern, sehr viel Spott ernten
wird. Wie peinlich, werden viele denken,
warum tut das Mädel sich dieses
Outfit an? Die Antwort suchen Sie sicher
nicht bei MTV.
Text: Christine Zier
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