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Rita Batzel (Foto: privat)

"Schwebend wie nie"

Durch ihre Krankheit hat Rita Batzel neue Wege gefunden

Rita Batzel (60) war eine erfolgreiche Rechtsanwältin, die nicht auf ein Familienleben verzichtet hat. Schon während des Referendariats bekam sie ihre zwei Kinder. Ihre freiberufliche Arbeit ließ ihr genügend Freiräume, um sie großzuziehen. Seit 1994 hatte sie eine eigene Kanzlei, spezialisiert auf Familienund Betreuungsrecht. Sie hat viele Menschen betreut, die ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln konnten. Die soziale Komponente war ihr bei ihrer Arbeit wichtig: "Das habe ich ausgesprochen gerne gemacht", erzählt sie. Oft hatte sie dabei mit psychisch Kranken zu tun, etwa einem Hochschulprofessor, "einem hochintelligenten Menschen, der aber seinen manischen Depressionen völlig ausgeliefert war". Rita selbst war körperlich immer gesund und fit, hat sich als "stark und stabil" erlebt und konnte oft Lebenshilfe für andere geben. Bis alles anders wurde... Es gab zwei Pflegefälle in ihrer Familie, die umfangreiche Betreuung erforderten. Zuerst die Großmutter, dann die Schwiegermutter. "Sechs Wochen nach dem Tod meiner Schwiegermutter ging’s bei mir los: Ich wurde als Notfall in die Klinik eingeliefert." Ihre akuten körperlichen Probleme konnten behandelt werden, und sie hat alles gut überstanden. Danach erlebte sie einen guten Sommer mit "aller Kraft der Welt". Die Kinder waren aus dem Haus, sie musste sich um niemanden mehr kümmern. Keiner kam zum Essen, sie konnte sich voll in ihre Arbeit knien und hat das genossen: "Mich hat keiner mehr gebremst." Ihr Leben hatte aber auch kaum noch Struktur.

Ohne Robe zum Gericht

Neben ihrem Job hat sie intensiv in einem Chor gesungen und an Auftritten teilgenommen. Dreimal wöchentlich ging sie ins Fitness-Studio – und wurde immer dünner. Sie stand ständig unter Strom, bis sie merkte, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte und immer länger brauchte für ihre Schriftsätze. Zunächst dachte sie: "Ich muss mich nur mehr anstrengen." Aber als sie einmal ohne ihre Robe zu einer Gerichtsverhandlung erschien, wurde ihr mulmig. Sie ließ sich auf Demenz testen – negativ. Besonders schlimm war für sie, dass sie plötzlich keine Entscheidungen mehr treffen konnte, selbst die Auswahl von Weihnachtsgeschenken erschien unmöglich. Nach zwei Schilddrüsen-Operationen "war körperlich der Stecker raus. Ich stand wie neben mir", erinnert sich Rita. Auf ihre hyperaktive Phase folgte eine tiefe Erschöpfung. Nach 25 erfolgreichen Berufsjahren ist ihr die Arbeit entglitten. Sie bekam Angst, bei ihren juristischen Fällen etwas zu übersehen. Auch fiel es ihr immer schwerer, sich selbst zu versorgen, den Alltag zu organisieren. Ihre Versagensängste mündeten in Schlafstörungen, und sie erkannte: "Ich laufe in eine Katastrophe rein!" Bei Internetrecherchen entdeckte sie eine Burn-Out-Klinik und dachte: "Wenn ich für vier Wochen da rein gehe, wird alles wieder gut." Doch die Krankenkasse schob einen Riegel vor. So hat sie jeden Morgen aufs Neue versucht, in ihrem Büro etwas Sinnvolles zu leisten, aber es ging nicht mehr. "Ich konnte kein Buch mehr lesen, keinen Fernsehfilm mehr verfolgen. Mich hat auch nichts mehr interessiert. Ich war der Situation hilflos ausgeliefert", schildert sie ihre damalige Situation. Besonders bitter war das für sie als eine Frau, die jahrelang die Krisen anderer geregelt hatte. Ein Verhaltenstherapeut, zu dem sie auf Empfehlung ging, sprach von "Erschöpfungsdepression". Damit hatte ihr Problem einen Namen. Und als Ursache tippte er auf ihre Arbeit, was sie zunächst nicht glauben wollte. Nach einem halben Jahr war sie trotz Tabletten und Gesprächstherapie noch immer krankgeschrieben und wurde nun stationär eingewiesen. Dabei wurde ihr klar, "dass es noch mehr Leute mit solchen Problemen gibt". Die meisten waren sehr leistungsorientiert. Rita bekam ihre Grenzen aufgezeigt, und wieder zu Hause musste sie sich eingestehen, dass ihr altes Leben in diese Begrenzungen nicht mehr reinpasste. Ihr beruflicher Wiedereinstieg ist gescheitert. Die Gutachter der Krankenkasse attestierten ihre Berufsunfähigkeit, was sie zunächst nicht akzeptieren wollte.

Was bin ich ohne Arbeit?

Noch einmal hat sie versucht, in ihrem Beruf zu arbeiten, und sich dabei "völlig runtergewirtschaftet". Danach hat sie mit 57 mehr oder minder erzwungen ihren Rentenantrag eingereicht und ihre Zulassung als Rechtsanwältin zurückgegeben. "Der Bescheid hat mich so sehr runtergezogen, dass ich mich umbringen wollte. Ich habe mich völlig ausgebootet gefühlt." In einem zweiten Klinikaufenthalt ging es um die Frage: Was bin ich ohne Arbeit? Welche Weichen kann ich in eine andere Richtung stellen? Ihr wurde klar, dass sie sich soziale Aufgaben suchen wollte. Doch dann, wie aus wieder heiterem Himmel, kam die Krebsdiagnose. Sie war allerdings für Rita nicht so niederschmetternd, wie man vermuten könnte. Nein, sie empfand "erstmal Erleichterung". Wie das? Für sie war es "endlich mal eine richtige Krankheit". Der Krebs war fassbar durch Röntgen- und sonstige Aufnahmen, durch Blutbilder und andere medizinischen Untersuchungsmethoden. Und niemand konnte sich darüber wundern, dass sie "nun wirklich nicht mehr konnte". Sie machte die Erfahrung, dass sie auch dann noch gemocht wurde, als sie nach der Chemotherapie ohne Haare herumlief. "Klar hatte ich Angst vor der Chemo, aber die Depression war erstmal ganz weg durch den Schock", erzählt die vom Schicksal Gebeutelte. Die Krebserkrankung hat ihr dabei geholfen, die Weichen in ihrem Leben anders zu stellen. "Wenn dies alles nicht passiert wäre, würde ich weiter in meinem Büro rödeln." Nun genießt sie ihre neugewonnene Zeit für die Familie, vor allem für ihren Enkel Bjarne, für ihre Freundschaften. Es ist ihr wichtig, anderen zuzuhören. Und sie geht ihrem Bedürfnis nach, kreativ zu sein. Sie lebt diese Zeit der Hoffnung ganz bewusst und ist "dankbar für die Dinge, die ich wieder kann. Etwa zwei Stunden spazieren zu gehen ohne zusammenzubrechen". Ich sah es schon, als wir uns trafen. Sie fühlt sich "schwebend wie nie".

Text: Jutta Schütz

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