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MATHILDE

Mutti und ich beim Kaffeetischdecken.

Meine Mutter mit Freundin in BDM-Tracht.

Fotos: privat

Was soll schon gewesen sein?

Verführerische Leitbilder: Barbara Linnenbrügger erforscht die Prägung der Mutter durch die Nazizeit.

Zwei Szenen aus meiner frühen Kindheit der 1950er Jahre gehen mir auch als 63-Jährige nicht aus dem Sinn. Erste Szene: meine Mutter hat mich in den dunklen Keller gesperrt, weil ich ihr zu wild war, sie mich nicht bändigen konnte. Ich fürchtete mich zu Tode. Zweite Szene: Muttis Geburtstag. Ich decke mit ihr die Kaffeetafel. Wir haben weiße, handbestickte Schürzen umgebunden, meine welligen Haare sind zu der von einer Schleife gehaltenen Tolle gelegt, die Mutti so sehr liebt. Sie führt meine Hand beim Ordnen von Geschirr und Besteck. Noch heute zieht ein Schauer zwischen Wut und Faszination über meinen Rücken, wenn ich das Bild betrachte. Heute weiß ich, das meine frühen Erlebnisse sehr viel mit den Idealen und Idolen meiner Mutter zu tun haben, sie sich dadurch erklären und mich so entbinden von der Last der Vergangenheit. Meine Mutter, Jahrgang 1922, hat ihre Kindheit und Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus verbracht. Sie wuchs mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder, der als 18-Jähriger im Krieg gefallen ist, wohlbehütet in einer relativ gut situierten Familie auf. Der erfolgreiche Besuch der Volks- und Handelsschule ermöglichten ihr einen guten Berufsabschluss als Kauffrau und während der Kriegsjahre eine Arbeit im städtischen Energieunternehmen ihrer Heimatstadt. Ihre Mutter, meine Oma, sagte in hohem Alter über ihre Tochter: "Sie war schon immer ein eigenwilliges Mädchen, das sich nichts sagen ließ, das machte, was es wollte." Bilder meiner Mutter als Jugendliche und junge Erwachsene zeigen eine selbstbewusste, schicke junge Frau, im Kreise von Freundinnen, der Familie, mit Arbeitskollegen.

Hat die Mutter für Hitler geschwärmt?

Diese dynamische, agile Frau habe ich als Mutter nie kennengelernt. Zeitlebens fragte ich mich, warum sie eine so nichtssagende, farblose Frau war, die nirgends Stellung bezog, die unauffällig ihre Arbeit in Haus und Garten verrichtete, uns Kinder ordentlich versorgte, aber uns selten in den Arm nahm, eine unterkühlte Beziehung zu uns hatte; eine Frau, die sich fraglos in das typische Frauenklischee fügte. Was war geschehen, dass meine Mutter so einen Wandel durchlebte? Diese Frage habe ich ihr zu Lebzeiten gestellt, aber sie hat nie geredet, ist allem ausgewichen, hat sich selbst nie dazu geäußert: "Was soll schon gewesen sein?" Heute gehe ich davon aus, dass meine Mutter glühende Verehrerin von Hitler und der Nazi-Ideologie war. Meine Mutter, die ich doch als fürsorgliche, freundliche Frau in Erinnerung habe. Meine Mutter, die Zeit ihres Lebens nicht erzählt hat, wie es ihr mit Hitler und dem Alltag im Nationalsozialismus ergangen ist. Sie war 1933 elf Jahre alt. Sie hatte sich der neuen Zeit verschrieben. Sie folgte dem ‘Führer’, fand in Hitlers Regime neue Werte und Ziele, beziehungsweise neuen Sinn. Sie fand Heimat beim Bund Deutscher Mädel (BDM), wuchs so mit der Nazi-Ideologie auf, identifizierte sich damit, legte Hoffnung und Lebensperspektive hinein. Sie verinnerlichte ein Welt- und Menschenbild, das geprägt war von Hitlers Forderung nach absolutem Gehorsam, von Rassenideologie und einer verheißungsvollen Zukunft in einer ‘völkischen Bewegung’, in der Hitler als ‘Messias’, als ‘Erretter’ aus Scham und Schande des Ersten Weltkrieges bejubelt wurde. An der Haltung meiner Mutter mir gegenüber und den Methoden, wie sie mich erzogen hat, sehe ich heute, dass sie durch und durch geprägt war von den im Nationalsozialismus propagierten Auffassungen von Kinder- und Säuglingspflege, von deren Erziehungsidealen und -zielen.

Sprachlos nach dem Zusammenbruch

Meine Mutter folgte Hitler, weil sie sich mit seinen Zielen identifizierte und sich durch ihn eine lebenswerte Zukunft erhoffte. Entsprechend tiefgreifend und perspektivlos muss der Schock nach dem Zusammenbruch des Naziregimes und der bedingungslosen Kapitulation 1945 gewesen sein. Dieser Bruch hat sie so sprachlos gemacht. Heute sehe ich, dass meine Mutter sich davon zeitlebens nicht erholt hat. Bei meinen Recherchen über ihr Leben im "Dritten Reich" habe ich bisher keine Hinweise dahingehend gefunden, dass sie Nazi-Verbrecherin war, aber allein als "Mitläuferin" oder "Verführte" sehe ich sie nicht. Erst nach der Hitler- Zeit lernten meine Eltern sich kennen, sie heirateten 1946 und mussten unter schwierigen Bedingungen im Haus der Schwiegereltern leben. 1947 kam meine Schwester zur Welt und ich 1951. Jahrzehntelang habe ich jegliche Kindheitserinnerung an meine Mutter verdrängt, verborgen in den Tiefen meiner Seele. Zu verletzend und beschämend war die kühle Distanziertheit meiner Mutter mir gegenüber, als dass ich mit der Erinnerung leben konnte. Gewandelt haben sich die verlorenen Kindheitserinnerungen in ein gerüttelt Maß an Selbstaufgabe, das mich immer begleitende Gefühl der Fremdheit allem und jedem Gegenüber und das Auf-der-Suche-sein nach dem Eigentlichen, das sich nicht zeigte. So ließ ich nicht locker in dem Bemühen, Licht in meine Schattenseiten zu bringen. Ich weiß nicht, ob ich meiner Mutter mit dieser Sichtweise ihres Lebensweges Unrecht tue. Sie ist schon lange gestorben. In unserer Familie gibt es niemanden mehr aus dieser Generation, auch keine Nachbarn oder Freunde. Es ist eher eine innere Gewissheit, dass es so gewesen sein muss, weil sich in mir, seit ich diesen Gedanken: "Meine Mutter war Nazi" erstmalig vor gut einem Jahr dachte, so viel erklärt und damit gelöst hat. Eine Zeit lang war ich so erschrocken darüber, dass ich den Gedanken kaum denken, geschweige denn, mit anderen darüber sprechen konnte. Seitdem hat sich viel verändert.

Barbara Linnenbrügger, Jg. 1951, Theaterpädagogin, Autorin, forscht seit Jahren über die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust und deren Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen.

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