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© Jutta Schütz

Ein Leben durch die Musik

Die Pianistin Alice Herz-Sommer wurde 110 Jahre alt

Mit dem Tod von Alice Herz-Sommer ist am 23. Februar ein bewegtes Leben zu Ende gegangen. Die Holocaust-Überlebende und berühmte Pianistin war bis zuletzt für ihren Optimismus, ihre Lebensfreude und ihre Hingabe zur Musik bekannt. Alice Herz-Sommer wird 1903 in Prag geboren, ihre Eltern sind jüdische Industrielle mit Liebe zu Kunst und Kultur. Bereits im Alter von fünf Jahren entdeckt Alice ihre Passion für das Klavier. Ein Instrument, dessen Musik ihr ein Leben lang Kraft und Zuflucht bieten soll.

Mit 16 Jahren wird sie das jüngste Mitglied der Deutschen Musikakademie Prag, zu Beginn der 1930er Jahre ist sie als Pianistin in ganz Europa bekannt. Ihr Erfolg in der Musik, die Ehe mit Leopold Sommer und die Geburt ihres Sohnes scheinen ein glückliches Leben zu versprechen. Dieses nimmt jedoch mit dem Einfall der deutschen Wehrmacht 1939 eine tragische Wende. Es beginnt die Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Herz-Sommer erhält Auftrittsverbote, alternativ durchgeführte Hauskonzerte werden durch Ausgangssperren erschwert. Selbst der Klavierunterricht an Nicht-Juden wird ihr untersagt.

Als 1942 ihre kranke Mutter von den Nationalsozialisten deportiert wird, verfällt Alice Herz-Sommer in eine Depression. Kraft erhält sie in dieser schweren Zeit durch ihre Musik. Aus einer inneren Eingebung heraus vertieft sie sich in das Auswendiglernen anspruchvollster Stücke. 1943 werden auch sie, ihr Mann und ihr 6-jähriger Sohn in das KZ Theresienstadt deportiert. Ihr musikalisches Talent und die zuvor erlernten Etüden retten ihr dort das Leben. Um der Öffentlichkeit ein falsches Bild vorzutäuschen, wird ein Kulturleben in Theresienstadt arrangiert. Wer als Künstler oder Künstlerin benötigt wird, steht nicht auf den Transportlisten in die Vernichtungslager. Alice Herz-Sommer wird Teil der Konzerte. Die Musik und ihre Disziplin schützen sie und bieten eine kleine Zuflucht vor dem grausamen Alltag im KZ. Auch ihr Sohn wird Teil des Orchesters. Etwa 50-mal spielt er in der Kinderoper Brundibár und sieht so weniger von dem Grauen um ihn herum.

Auf die Frage, wie sie das Leben im Konzentrationslager habe aushalten können, antwortet Alice Herz-Sommer später: "Da gibt es nur ein Wort als Erklärung: Die Musik. Die Musik ist ein Zauber. Wir haben alles auswendig gespielt. Die Etüden, die Beethoven-Sonaten, Schubert, alles. Im Rathaus-Saal für 150 Leute, alte verzweifelte, kranke, verhungerte Menschen. Die haben gelebt von der Musik, die Musik war das Essen. Die wären längst schon gestorben, wenn sie nicht gekommen wären. Und wir auch." Doch Alice Herz-Sommer muss miterleben, dass auch ihr Mann auf der Transportliste nach Auschwitz steht. Sie können sich noch verabschieden, danach sieht sie ihn nie wieder. Leopold Sommer stirbt 1945, kurz vor der Befreiung der Konzentrationslager.

Alice Herz-Sommer überlebt und auch ihr Sohn wird als eines von nur 130 überlebenden Kindern aus Theresienstadt befreit. Der Neubeginn in Prag ist schwer. "Es war schmerzlich", erinnert sie sich, "keiner kam zurück". Beide gehen später nach Israel und 1986 nach London, wo ihr Sohn Karriere als Cello-Spieler macht. Über die Zeit in Theresienstadt sprechen sie nicht oft: "Ich wollte nicht, dass er mit Hass aufwächst, denn Hass bringt Hass hervor". Vielleicht ist dies das Erstaunlichste an Alice Herz-Sommer: das Fehlen jeglicher Bitterkeit. In vielen Interviews wird es erwähnt, Vorwürfe und Zorn verbietet sie sich. Sie beeindruckt mit ihrem Optimismus, ihrer Disziplin und ihrer ansteckenden Lebensfreude. In ihrem Londoner Appartement empfängt Herz-Sommer bis zuletzt viel Besuch, zahlreiche Bücher und Filme erscheinen über sie. Jeden Tag spielt sie mehrere Stunden am Klavier und scheint glücklich zu sein. Das Leben ist schön, das betont sie oft. "Mein Optimismus", sagt sie, "hat mir durch die dunkelste Zeit in meinem Leben geholfen. Ich interessiere mich für die schönen Dinge im Leben". Eine Weisheit, wie man sie vielleicht erst mit über 100 Jahren erlangt.

Text: Christine Zier

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