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Fehlt der feministische Blick auf das BIP?

WirtschaftswissenschaftlerInnen werden früh mit einer speziellen Kritik am Bruttoinlandsprodukt (BIP) vertraut gemacht, dem Haushälterinnen-Paradox. Heiratet nämlich ein Mann seine Haushälterin und verrichtet diese nach der Eheschließung dieselbe Arbeit wie zuvor als Haushälterin, so hat sich an der geleisteten Arbeit nichts geändert, das BIP dagegen ist gesunken. Das BIP ist definiert als Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen. Unter Gesamtwert ist der Geldwert zu verstehen. Es zählen nur die verkauften Waren und Dienste. Ob diese Kritik in den Wirtschaftswissenschaften als feministisch bezeichnet wird, ist mir nicht bekannt. Unbezahlte Hausarbeit im weitesten Sinn, worunter auch das gefasst wurde, was heute als Sorgearbeit bezeichnet wird, war eines der wichtigsten Themen der Frauenbewegung der 1970er Jahre. Die zutage geförderten Erkenntnisse, etwa über die Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, wurden ergänzt durch die umstrittene Forderung nach "Lohn für Hausarbeit". Selbst Kritikerinnen dieser Position forderten einen anderen Arbeitsbegriff, der unbezahlte (Haus-)Arbeit sichtbar macht und nicht nur wie das BIP die Erwerbsarbeit im Blick hat. Gleichzeitig wurde in jenen Jahren die Bedeutung der Hausarbeit von anderer Seite gewürdigt. 1972 haben die USAmerikaner William Nordhaus und James Tobin, bekannt durch die nach letzterem benannte Steuer, ein Wohlfahrtsmaß entwickelt, das Measure of Economic Welfare (MEW), das die Hausarbeit einbezieht und daher einen höheren Wert als das BIP ergibt. Heute ist die Diskussion über Alternativen zum BIP in Deutschland aktuell, da der Bundestag am 1.12.2010 die Einsetzung einer Enquête-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" beschlossen hat. Deren Aufgabe ist es, den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft zu ermitteln, einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator zu entwickeln und die Möglichkeiten von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt auszuloten. Die Arbeit der Kommission geht inzwischen ihrem Ende entgegen.

Unbezahlte Arbeit im Haushalt

Erste Berichte aus Projektgruppen liegen vor, so der Bericht der Regierungsparteien für die Projektgruppe "Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft", der jedoch nichts zu der Nichterfassung unbezahlter Arbeit im BIP enthält. Anders der Bericht der Oppositionsparteien derselben Projektgruppe. Dort wird erwähnt, dass im BIP weite Teile der tatsächlichen Leistung gar nicht erfasst werden, obwohl dieses als Maß der wirtschaftlichen Leistung einer Volkswirtschaft gilt. Dies gelte für alle Arbeiten, die legal, aber unbezahlt im Bereich der privaten Haushalte (unter anderem Sorgearbeit) erfolgen. Schätzungen gehen davon aus, dass bei einer Erfassung dieser nicht über Märkte laufenden Haushaltsproduktion das BIP um rund ein Drittel höher liegen würde. In dem Papier findet sich jedoch kein Plädoyer für die Berücksichtigung der Hausarbeit in einem neuen Indikator. Dagegen listen die AutorInnen unter dem Stichwort Geschlechtergerechtigkeit die sattsam bekannten Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, mehr Frauen in Führungspositionen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine geschlechtergerechte Aufteilung der Sorgearbeit auf, wobei letztere die Bereitstellung qualitativ hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen voraussetze. Wir dürfen gespannt sein, was der endgültige Enquête-Bericht enthält. Eines lässt sich jetzt schon sagen: Die Kommission wird das Rad nicht völlig neu erfinden müssen, denn Ende der 1980er Jahre wurde das MEW in den USA zu einem Index for Sustainable Economic Welfare (ISEW), Anfang der 2000er Jahre zum Genuine Progress Indicator (GPI) weiterentwickelt und von Hans Difenbacher und Roland Zieschank als Grundlage für einen Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI) verwendet. In diesen drei Messgrößen wird Hausarbeit einbezogen. Können Feministinnen sich also beruhigt zurücklehnen und den Dingen ihren Lauf lassen, sich in Sicherheit wiegen, dass Hausarbeit im Endbericht der Kommission nicht untergehen wird? Um darauf zu antworten, muss man/frau sich fragen, warum sich die Politik (übrigens nicht nur in Deutschland) des Themas heute annimmt und warum Feministinnen bzw. FrauenpolitikerInnen sich bisher dazu nicht öffentlich positioniert haben.

Text: Ursula G. T. Müller

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