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Foto: By Myself. Pixelio
Die Autorin dieses Berichtes will verständlicherweise anonym bleiben. Um anderen Mut zu machen, hat sie sich dazu entschlossen, ihre Geschichte aufzuschreiben und öffentlich zu machen.
Sie schildert mit "inneren Bildern" die auftauchenden Erinnerungen an ihr Kindheitstrauma, die Abwehr der quälenden Bilder, die Arbeit mit ihrem "inneren Kind", die schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihren seelischen Verletzungen und den dadurch möglichen Prozess der Heilung. (Das "Innere Kind" ist ein symbolischer Ausdruck für den Teil unserer Psyche, in dem die Erlebnisse und Emotionen aus der Vergangenheit gespeichert sind. Ziel einer Therapie ist, eine liebevolle Verbindung zu diesem inneren Kind herzustellen, um den Zugang zu abgespaltenen Gefühlen zurück zu gewinnen).
Die Erinnerungen kamen mit großer Wucht. Es war ungefähr vor drei Jahren, ich war damals 40 Jahre alt, mein Körper hatte es über 25 Jahre geschafft alles vollständig zu verdrängen. Dann ging alles sehr schnell. Ich bin schwer depressiv, selbstmordgefährdet in eine psychosomatische Klinik gegangen. Die Klinik hat mir nicht nur das Leben gerettet, sondern auch die Chance zu einem neuen Leben ermöglicht. Geholfen hat mir auch die Arbeit mit dem "inneren Kind". Erst vor ca. drei Monaten, nach drei Jahren Auseinandersetzung habe ich meinen Frieden mit den verletzten Kindern in mir geschlossen. Erst jetzt akzeptiere ich, dass ich missbraucht wurde ohne zu leugnen oder zu versuchen es weg zu reden. Seitdem ich es annehmen kann, wird es besser. Es bedeutet großen Schmerz, aber es ermöglicht auch Heilung. Der Weg ist nicht leicht, aber es gibt dann die Chance auf ein eigenes, selbstbestimmtes und friedvolles Leben.
Auftauchende Erinnerung an das innere Kind
Der Raum ist groß, er ist nicht dunkel und nicht hell. Kein Fenster ist zu
sehen, keine Tür. Nichts stört das Auge, alles ist leer. Leer und
groß. In der Ecke sitzt das Kind. Es ist wohl ungefähr 5 Jahre alt.
Es ist klein, nur der Kopf ist groß.Unbeweglich, kein Muskel zuckt, ganz
starr sitzt es da, zusammengekauert in der Ecke. Es ist kalt in dem Raum, das Kind
friert, aber es ist nackt. Aber das scheint es nicht zu stören. Es kauert in
der Ecke, die Arme um die Beine geschlungen, regungslos, wie tot. Aber der Kopf ist
oben, es schaut nach vorne. Die Augen sind groß, große braune Augen.
Sie bewegen sich nicht, sind weit aufgerissen. Nur an der angespannten Haltung ist
zu erkennen: Es lebt, es atmet, es ist da.
Das ist doch Scheiße mit dem Kind, Blödsinn, Therapie-Gequatsche, nur
Bilder. Das Kind ist seit über 40 Jahren weg, tot, erwachsen, verschwunden.
Was soll ich mit dem Kind. Ich will dieses Kind nicht. Das bedeutet schlechte
Gefühle, Schmerz, Angst, Panik, eingesperrt sein. Wer will denn so ein Kind?
Selber schuld, dieses blöde Kind. Wäre es nett gewesen, dann ginge es
ihm gut, es ist selber schuld, nicht immer die anderen. Wer nett ist, wird
beschützt.
Ja, ich hasse dieses Kind, bin ich froh, dass ich nichts mit ihm zu tun habe. Es
muss doch schlecht sein, wenn ihm keiner hilft. Man muss doch auch mal ehrlich
sein.
Rückblende (Flashback) zu dem frierenden Kind
Jemand betritt den Raum. Es wird noch kälter, alle Empfindungen werden
eingefroren – alle.
Ich will nicht wissen, was passiert ist und schon gar nichts fühlen – es hat nichts mit mir zu tun. Ich bin groß, ich bin stark, ich brauche keinen, mir kann keiner wehtun. Das Kind hat sich verführen lassen, bestimmen lassen – ich mache das nicht, nicht für Liebe. Ich doch nicht – ich bin doch groß.
Schilderung eines Besuchs der Familie während des Klinikaufenhalts, dabei Reinszenierung des Kindheitstraumas durch den missbrauchenden Ehemann:
Es ist drei Jahre her. Es ist Mittag, die Sonne scheint, es ist ein wunderschöner Sommertag. Meine Familie besucht mich in der Klinik, mein Ehemann und unsere drei Kinder. Ich freue mich riesig. Wir fahren zusammen zum See. Unsere Kinder bleiben im Auto, ich gehe mit meinem Mann nach draußen. Ich befriedige ihn im Gebüsch, während die Kinder hoffentlich im Auto warten – sichtbar für alle, ohne jeden Schutz. Er ist wütend, voller Hass. Er nennt es strafvögeln. Er sagt: Ich muss strafgevögelt werden, ich muss für meine Schuld zahlen. Ich fühle mich nicht gut, aber ich weiß, er hat recht. Es ist alles gut. Ich mache es doch aus Liebe oder? Für Liebe zahlt man. Ich habe Angst.
Ich gehe in die Klinik zurück, ich schäme mich, ich erzähle niemandem davon. Ich fühle mich unehrlich, spüre, es war nicht richtig. Die Therapeutinnen und Therapeuten geben sich so eine Mühe und ich lasse mich strafvögeln. Ich habe es getan, ich bin doch schon groß! Wenn ich es in der Klinik erzähle, schmeißen sie mich vielleicht raus, sind genervt, die Frau lernt wohl nichts dazu – will wohl nicht, dann muss sie halt alleine zurechtkommen. Den spitzen Stein, den ich schon in der Hand hatte, habe ich fallen gelassen – die Gemeinschaft schützt mich. Ich habe doch etwas gelernt und erfahren.
Das ist drei Jahre her. Ich habe viel gelernt seither. Ich mache das heute nicht mehr. Ich bin ich – ich habe heute nichts zu tun mit diesem Kind und die Frau hat sich weiterentwickelt. Ich will nicht gestört werden – ich habe alles im Griff. Ich kann nicht mehr verletzt werden, wer keine Beziehung hat, kann sich nicht verletzen – so einfach ist das.
Wieder Rückblende zu dem gequälten Kind, Angst und Abwehr
Die Kinder schreien, sie schreien, sie schreien – sie hören nicht mehr
auf. Es ist so laut in mir. Oh Gott, lass sie aufhören zu schreien. Das Kind
ist nicht allein – es sind noch mehr Mädchen da. Alle schreien, sie
weinen, sie zerren an mir, sie wollen endlich ihr Recht. Sie wollen etwas.
Ich kann das nicht. Sie sollen weg. Sie werden mich umbringen. Sie wollen mich
zerstören. Sie ziehen mich aus und dann - dann bin ich vollkommen schutzlos.
Ja, mir geht es heute besser, ich habe mein Leben geordnet, aufgeräumt,
sortiert – die Gegenwart ganz gut im Griff.
Jetzt ist Zeit, jetzt ist Kraft übrig. Es kommt immer soviel wie man
erträgt.
Es ist dran, ich weiß es, es beherrscht jetzt mein ganzes Leben, mein Denken
und mein Fühlen. Nicht nur in besonderen emotionalen Situationen sondern in
meinem gesamten Leben – es ist jetzt dran.
Ich spüre es, es geht. Ich mache die Pflaster ab, ganz bewusst in meinem Tempo
und ganz behutsam. Unter manchen Pflastern sieht man das rohe Fleisch oder sogar
den weiß schimmernden Knochen. Ich verbinde es wieder sorgfältig –
alles zu seiner Zeit. Das behalte ich für mich – der Anblick offener
Knochen ist nichts für jedermann, das kann ich nicht gut aushalten. Und ein
schnell aufgeklebtes Pflaster ist sehr schmerzhaft. Das Gefühl nichtverstanden
zu werden, löst bei mir große Ohnmacht und Verzweiflung aus. Das
Gefühl eines kleinen Mädchens: niemand sieht mich und niemand hilft mir.
Ich bin allein.
Aber ich bin bereit. Es ist ständig da, es gibt keine Pause mehr. Ich
spüre den Schaden, die Symptome. Es ist jetzt einfach dran – ich kann es
bewusst als Erwachsene wahrnehmen.
Ich lebe in ständiger Anspannung, in ständiger Angst. Ich bin immer bereit zur Flucht. Die Gefahr kommt ohne Vorwarnung. Das Leben ist dadurch sehr anstrengend. Es kostet sehr viel Kraft und Zeit alles zu beobachten, alles zu kontrollieren, sich das Gefühl von Sicherheit zu verschaffen.
Aber schlimmer ist das Sich-Auflösen, das Neben-Sich-Stehen. Wenn der Mund, die Stimme nicht mehr zu mir gehören, die eigenen Grimassen zu Fratzen werden und das inmitten von anderen. Ich bin mir selbst fremd, ich habe das Gefühl zweimal da zu sein. Ich denke immer, die anderen müssen das doch merken, dass ich falsch bin, nicht echt. Körper und Gefühle sind dann wie abgeschnitten. Das hat auch sein Gutes, ich spüre nicht mehr den Ekel im Mund, die widerliche Zunge, den Gaumen, die Arme, die Schultern... Kein Körperteil gehört ganz mir. Meine größte Sehnsucht ist Geborgenheit und Sicherheit. Und das ist für mich am schwierigsten zu bekommen.
Beginnende Heilung der Beziehung zum bisher abgelehnten
inneren Kind
Alle Kinder schreien, sie wollen gehört werden. Nicht alle Kinder schreien, die
Kleine ist ruhig. Sie steht stumm da, mit großen Augen und schaut mich an.
Und sie ist noch so verdammt klein, drei Jahre alt. Einen kurzen Moment
zögere ich noch, dann nehme ich sie in den Arm und tröste sie.
Und sie weint und weint. Sie hört nicht mehr auf zu weinen.
Ich habe Zeit und Geduld, ich weiß sie wird aufhören zu weinen –
irgendwann. Und aus den Reihen der schreienden Mädchen lösen sich andere,
stumm, mit regungslosen Gesicht und weit aufgerissenen, entsetzten Augen, das
älteste ist schon 13. Aber auf ihren Gesichtern liegt ein leichter Schein der
Hoffnung.
Heute bin ich erwachsen. Ich versuche zu lernen, dass ich Liebe, Verständnis und vor allem Hilfe erhalten kann. Es ist ein langer, steiniger, schwieriger und gefährlicher Weg, sicher auch mit vielen Irrwegen und Rückfällen, aber der schwierigste Schritt ist gemacht: Ich als Erwachsene weiß es jetzt ganz bewusst, ohne es zu verdrängen oder weg reden zu wollen:
Ich bin die Kleine. Ich bin eine missbrauchte Frau.
Ich weiß es jetzt, ich nehme es an und ich versuche es laut und selbstbewusst zu sagen:
Es war schwer, es war lang, es war schrecklich, es war verdammt schwer und das ist heute alles immer noch so verdammt schwer und es ist auf keinen Fall eine Lappalie.
Text: Die Autorin ist der Redaktion bekannt.