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Kriegsenkel/innen

Über ein Buch von Sabine Bode

In dem Buch "Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation" sind von der Autorin geführte Interviews zusammengefasst und von ihr mit begleitenden Gedanken versehen. Befragt wurden Kinder von Eltern, die während des Zweiten Weltkriegs Kinder waren. Kriegsenkel sind nach Sabine Bodes Einschätzung im Wesentlichen Angehörige der 1960er Jahrgänge. Sie stellen sich ähnliche Fragen und haben ähnliche Themen. Es geht um emotionale Blockierungen, Menschen, die beruflich und/oder privat auf der Bremse stehen. Viele haben keine eigenen Kinder. Sie tragen ein stilles Unglück und verstehen nicht, warum sie nicht glücklich sein können, denn sie hatten/haben doch alles und sind in "normalen" Familienverhältnissen aufgewachsen, ihnen fehlt ein greifbares Drama, das sie benennen könnten.

Es ist ein stilles Unglück gewesen, denn nicht der Krieg hat ihnen Schaden zugefügt, sondern es waren die eigenen Eltern. "Schlecht" über die eigenen Eltern zu reden kommt ihnen wie Verrat vor. Sie sind in einer Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen, in der sie ständig gesagt bekamen, sie dürfen nicht klagen, weil sie es doch so gut haben – und subtil die unverdauten Mangelerscheinungen der Großeltern und Eltern aufgebürdet bekamen, die so gar nicht in eine "heile Welt" passten.

Ich bin 1965 geboren und habe Kriegseltern. Der Inhalt des Buches hat mich sehr berührt, und vieles trifft auf mich und meine Eltern auch zu, darum schreibe ich ab hier "wir". Wir haben versucht, es unseren Eltern leicht zu machen und für sie zu sorgen, das stellt das Fürsorgeprinzip auf den Kopf, die Kinder werden teilweise zu Eltern für ihre Eltern. Die Eltern haben sich damit unbewusst "schuldig" gemacht. Sie sehen keine Beteiligung am Unglück ihres (erwachsenen) Kindes, beziehungsweise nehmen gar kein Unglück wahr, schreibt Bode.

Tiefes Gefühl von Verlorenheit

Diese Zusammenhänge werden zunehmend auch in therapeutischen Zusammenhängen erkannt. Viele der Kriegskinder konnten als Eltern wenig auf die psychischen Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen. Das ist das stille Drama der Kriegsenkel. Charakteristisch ist eine unstillbare Sehnsucht nach Trost, ein tiefes Gefühl von Verlorenheit und keine positive Identität.

Als geschlechtsspezifische Betrachtungsweise hebt die Autorin hervor, dass bei Frauen, die im Krieg Kinder waren, eine starke Wehrlosigkeit zu erkennen ist. Frauen, die als Kinder vergewaltigt wurden und nicht genügend Beistand und Trost erfahren haben, sind – und das ist die Tragik für die folgende Generation – in den meisten Fällen Gift für die Söhne. Sie sorgen dafür, dass ihnen schon in den ersten Lebensjahren die Regungen von Aggressivität ausgetrieben werden. Bode schreibt: … es reicht den Säugling mit Abwesenheit zu strafen."

Den meisten Kriegskindern gelang es, vor allem durch unermüdliches Arbeiten, ihre Schreckenserinnerungen und die Angst, das (Nach-) Kriegselend könnte wieder kommen, auf Abstand zu halten. Eine Überlebensstrategie, die Kriegsenkel bei ihren Eltern entdecken, ist: "Nur was man gelernt hat, kann einem keiner nehmen."

Weitere Zitate von Kriegsenkeln haben mich sehr angesprochen wie zum Beispiel: "Meine Mutter kann es nicht ertragen, wenn ich schwach bin." "Es tut weh zu sehen, wie traurig Mutters Leben ist, das ungelebte. So wie sie selbst nicht für sich sorgen konnte, damit es ihr besser geht, so konnte sie auch nicht für uns sorgen. Es ging immer nur um das materielle Wohlergehen. Sie hat nie nach unseren psychischen Bedürfnissen geschaut. Sie konnte uns nicht wirklich wahrnehmen."

"Ich sehe das ganze eingeschränkte Leben in ihrem Gesicht. Mutter hat sich geistig nicht weiterentwickelt und jetzt verblödet sie noch mehr." "Vater konnte Mutter nicht glücklich machen, egal wie viel Mühe er sich gab: Sie war und ist jemand mit einer tiefsitzenden Lebensunzufriedenheit."

Mutters Botschaft war: Nicht auffallen, keine Veränderung, nichts riskieren, nicht wehren, andere sind immer stärker, Leiden ist etwas völlig Normales. Vaters Botschaft war: Freude am Leben, nicht unter-KRIEG-en lassen, arbeiten, Wille, immer kämpfen.

Oft gab es einen Mangel an emotionaler Aufmerksamkeit für die Kinder seitens der Eltern. Auch einen Mangel an Wertschätzung, der sich heute darin ausdrückt, dass sich die Eltern für die Welt der erwachsenen Kinder nicht sonderlich interessieren. "Meine Eltern wissen gar nicht, wer ich bin." "Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen." "Die Großmutter war eine kalte Frau, wir sind ihrer Liebe hinterhergelaufen." "Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens und ohne diese keine positive Identität", so Bode.

Viele Kriegseltern leben nicht mehr. Die Kriegskinder kommen zunehmend in Pflegebedürftigkeit. Auffallend sind die Themen Demenz und IMMOBIL-ität. Viele IMMOBIL- ien werden jetzt in die nächste Generation vererbt oder verkauft und in Geld gewandelt für die Pflege bei Immobilität und Demenz. (Anmerkung Helma Eller)

Hinweise zur Abnabelung

Kriegsenkel/innen sind oft gehemmt, die Älteren mit ihrer Maßlosigkeit (Konsum, Umweltvernichtung, ...) und ihrem Desinteresse an gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung zu konfrontieren. Im Schlusskapitel gibt die Autorin Kriegsenkel/innen, die sich bis heute noch nicht abgenabelt haben, folgende Hinweise: Sich von ihren Hoffnungen auf mehr Gemeinsamkeiten mit den Eltern zu verabschieden, sich nicht mehr länger um mehr Nähe zu bemühen, sondern die Beziehung so zu akzeptieren, wie sie ist. Im Umgang mit Mutter und Vater zu unterscheiden zwischen Rücksichtnahme und unguter Fürsorge.

Sie rät uns initiativ zu werden und entscheidende Fragen zu stellen: Will ich beruflich noch einmal durchstarten und mein Potential ausschöpfen? Will ich Familie und eigene Kinder? Wie gelingt es mir, mich nicht länger durch meine Fürsorge für die Eltern emotional aussaugen zu lassen? Wie kann ich mich stärker von meinen Eltern abgrenzen, damit meine Kraft reicht, um die eigene Zukunft zu gestalten?

In gesellschaftlichen Belangen haben die Kriegsenkel/innen heute verantwortungsvolle Positionen im öffentlichen Leben. Bode schreibt, es genügt nicht, hier die Zügel nur in der Hand zu halten. Für die Kriegskinder (Eltern) ist es wichtig, dass sich möglichst wenig ändert, für die Kriegsenkel/innen (Kinder) gilt das nicht. Wenn uns die Aufrechterhaltung sozialer Gerechtigkeit wichtig ist, dann reicht es nicht die Zügel in der Hand zu halten und die Kutsche weiterrollen zu lassen, sondern Entscheidungen für Richtungswechsel zu treffen, so Bode.

Viele Kriegsenkel/innen werden lernen müssen, sich selbst wichtig zu nehmen und notwendigen heftigen Auseinandersetzungen mit den Älteren ins Auge zu sehen. Grenzziehungen verlaufen selten ohne Konflikte, aber sie schaffen eindeutige Verhältnisse und einen klaren Blick auf Prioritäten, schreibt die Autorin.

Helma Eller

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