Werden Sie auch eine

MATHILDE

Kommentar

Von allein wird nichts besser

Sexueller Missbrauch ist keine Ausnahme, sondern geschieht alltäglich in allen sozialen Schichten. Die polizeiliche Kriminalstatistik registriert lediglich die jährlich angezeigten Fälle von denen die wenigsten zu einer Verurteilung kommen. Natürlich ist die Dunkelziffer enorm hoch. Nach vielen Stunden Suche im Internet habe ich folgendes gefunden:

Alice Schwarzer schreibt in der Frauenzeitschrift Emma, Ausgabe Frühling 2010: „Allein in Deutschland werden nach Schätzung des Kriminologischen Instituts Hannover Jahr für Jahr etwa eine Million Kinder missbraucht, in neun von zehn Fällen sind es Mädchen. Und drei der vier Täter sind keine bösen Fremden oder Lehrer, sondern es ist der eigene Vater, Onkel, Nachbar. Ja, und 98,5 Prozent der Täter sind laut Bundeskriminalamt Männer – die 1,5 Prozent Frauen sind in der Regel Mittäterinnen.“

Diese Studie ist umstritten. Ursula Enders von Zartbitter hat sich ausführlich damit befasst und leicht nachvollziehbare Kritikpunkte herausgearbeitet. Da werden strafrechtlich relevante Taten jugendlicher Täter und Täterinnen ausgeblendet, weil die in der Studie erfassten Fälle einen Altersunterschied von mindestens fünf Jahren haben müssen. Kinder in Internaten und Heimen werden nicht ausreichend erfasst. Der Forschungsbericht erlaubt keine Rückschlüsse, ob Menschen mit Behinderungen befragt wurden.

Alice Schwarzer schreibt weiter (in Emma 2010): „Jedes vierte bis dritte Mädchen, jeder zehnte Junge ist heute ein Opfer des sexuellen Missbrauchs, dieser frühesten und tiefsten Brechung, die einem Menschen widerfahren kann. Und die meisten leiden lebenslang an den traumatischen Folgen.“

Auch nach jahrelanger Aufklärungsarbeit scheint sexuelle Gewalt noch immer Privatsache zu sein. Viele Betroffenen verschweigen manchmal lange, manchmal für immer, was ihnen widerfahren ist. Die Scham ist unendlich. Die Opfer nehmen die Schuld auf sich, haben Probleme mit der Schule, später im Beruf, mit ihrem Körper, der Gesundheit, der Sexualität und den späteren PartnerInnen. Sie haben ein höheres Risiko wieder in Gewaltbeziehungen zu landen oder wieder Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Die Spirale setzt sich fort, ein Fehlstart ins Leben, der alles kaputt macht. Die Täter werden meistens nicht zur Verantwortung gezogen, je enger Opfer und Täter zusammenleben, desto seltener kommt es zur Anzeige.

Auch das Deutsche Jugendinstitut, das eine Umfrage im Rahmen des Projekts: „Sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen in Institutionen“ durchgeführt hat, beobachtet, dass Verdachtsfälle durch an der Institution tätige Personen seltener Konsequenzen nach sich zögen. Der Täterschutz funktioniert leider immer noch. Die Folgen sexuellen Missbrauchs sind total, sie berühren ausnahmslos jeden Bereich des Lebens. Die Liste der Leiden ist lang, manchmal geht auch Leben nicht. Um zu überleben, werden Strategien entwickelt, die später die Nähe zu anderen Menschen zerstören.

Es ist notwendig, sich immer wieder für das Thema zu sensibilisieren. Und wir dürfen das Thema nicht ruhen lassen, denn von allein wird nichts besser.

Christiane Schäfer

zurück

MATHILDE