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MATHILDE

Bild von Dorothee Roth

Das Foto zeigt Dorothee Roth

Foto: Jutta Schütz

Mit dem weißen Stock voran

Eine Frau ertastet ihr Leben

In ihrer Wohnung an der Mathildenhöhe ist es aufgeräumter als bei mir. Ordnung ist sicher wichtig für sie, damit sie sich in ihrem Alltag zurechtfindet.Dorothee Roth (45) ist blind, seit 34 Jahren. Sie wurde zu früh geboren, lag im Brutkasten, und diesen Frühstart ins Leben macht sie dafür verantwortlich, dass zwischen ihrem neunten und 12. Lebensjahr ihre Netzhaut immer mehr eingerissen ist. Sie wurde mehrmals am Auge operiert, erhielt Laserbehandlungen, doch die Ärzte konnten ihre Erblindung nicht verhindern. Was das für sie als Elfjährige damals bedeutet hat? „Ich habe einfach weitergelebt und das getan, was nötig war“, sagt sie.

Nötig wurde das Erlernen der Blindenschrift. Sie kam auf eine Grund- und Hauptschule für Blinde und Sehbehinderte im saarländischen Lebach. Die Woche über lebte sie dort im Internat, am Wochenende durfte sie nach Hause – nach Zweibrücken in der Pfalz. Um das Abitur zu machen, musste sie an ein spezielles Gymnasium in Marburg wechseln. Auch hier war das Wohnen inbegriffen, allerdings in kleinen Wohngruppen, die über das Stadtgebiet verteilt sind. Gelernt werden an diesen Schulen nicht nur die üblichen Schulfächer, sondern die Blinden erhalten zum Beispiel ein Mobilitätstraining. „Die Schule legt Wert auf Selbstständigkeit“, erzählt Dorothee Roth.

Nach Darmstadt kam sie des Studiums wegen. Sie hat Sozialarbeit – mit Schwerpunkt Suchtkrankheiten und Psychiatrie - an der Fachhochschule studiert, und sie sei im Studium trotz ihrer Behinderung gut zurechtgekommen, betont sie. „Man muss ein Semester gut vorausplanen“, sagt sie rückblickend. Im Student/innen-Wohnheim der FH konnte sie die barrierefrei gestaltete Behindertenwohnung in Anspruch nehmen. Als Blinde hat sie einen Behindertenstatus von 100 Prozent.

„Dialog im Dunkeln“

Ihre Ausbildung wollte sie beruflich im Beratungsbereich umsetzen, hat aber keine geeignete Stelle gefunden. Im Birkentaler Hof in Frankenhausen, einer Einrichtung für psychisch kranke ältere Menschen, hat sie die Singgruppe geleitet und sakrale Körperarbeit angeboten. 2005 eröffnete sich eine neue, attraktive Chance. In Frankfurt wurde das Dialog-Museum eröffnet, in dem blinde Führer/innen durch eine Ausstellung in stockdunkler Finsternis geleiten. Der „Dialog im Dunkeln“ besteht aus unterschiedlichen Alltagssituationen, die ohne Augenschein eine vollkommen neue Erlebnisqualität bergen. Ein Parcours zur Schärfung der Sinne. Das Museum bietet auch ein Dunkel-Restaurant („Taste of Darkness“) und ein „Casino for Communication“. Hier werden an sieben Spieltischen im Hellen kommunikative Fähigkeiten spielerisch erlebt. Für Dorothee Roth ist ihr Engagement als Guide „ein notwendiger Job, weil die Vorurteile gegenüber Blinden in der Bevölkerung so hoch sind.“ Sie wünscht sich „mehr Verständnis und dass die Mitmenschen ihre Scheu verlieren, mit Blinden umzugehen“.

Was man bei diesem Umgang beachten solle, frage ich sie. Dafür gebe es kein Patentrezept, das komme auf die Situation an. Im Straßenverkehr solle man erstmal beobachten, ob Die- oder Derjenige gut klarkommt. Wenn nicht, dann „erst ansprechen, bevor man den Menschen anfasst!“ Sie sei schon oft erschrocken, weil sie plötzlich an der Schulter gepackt wurde, um ihr über die Straße zu helfen. Dorothee Roth läuft fast täglich alleine zur Bushaltestelle – mit dem weißen Stock tastend voran, wobei sie die lebhafte Dieburger Straße überqueren muss. Mit dem Bus geht es zum Hauptbahnhof und dann mit Zug oder S-Bahn nach Frankfurt. Und dort in die Straßenbahn, bis sie das Dialog-Museum erreicht hat. Bewundernswert. Einen Blindenhund will sie nicht: „Ich mag keine Hunde.“

Wie es mit der Barrierefreiheit in Darmstadt stehe? „Ich mag Darmstadt“, betont sie. „Aber orientierungstechnisch ist Darmstadt nicht einfach, weil es so viele freie Plätze gibt. Da ist nichts zum Orientieren“, macht sie klar. Und sie muss dann Leute fragen, ob sie sie irgendwohin bringen können. Hilfe braucht sie zum Beispiel auch beim Klamotten kaufen. Und einmal wöchentlich kommt eine Vorleserin. Nicht um Romane vorzulesen, die gibt es oft in Blindenschrift oder als Hörbuch. Aber Roth muss auch wissen, was in ihrer Post geschrieben steht, während sie E-Mails durch ein spezielles Programm in Sprache umwandeln kann.

Was bedauert sie, durch ihre Blindheit nicht machen zu können? „Am meisten bedaure ich, nicht allein draußen in der freien Natur sein zu können. Sicher ist es möglich, aber wenn ich alleine rausgehe, dann ist es anstrengend.“ Und was erlebt sie speziell als blinde Frau? „Manchmal gibt es von Männern eine sexualisierte Hilfe. Also nach dem Motto ‚Ich helfe Ihnen mal in den Bus’, und dann wird mir unter die Arme gegriffen…“

Neben ihrem durchaus anstrengenden Beruf hat Dorothee Roth ein wunderbares Hobby: Sie singt Sopran im Chor der Darmstädter Kantorei. Dabei muss sie alle Texte und Melodien auswendig lernen, denn Noten in Blindenschrift gibt es kaum.

Sie lässt sich das Werk vorlesen, nimmt es auf – genauso wie die Sopranstimme isoliert aufgenommen werden kann. Das hilft ihr beim Einstudieren. Weitere Hobbies? „Rein theoretisch spiele ich Blockflöte und Klavier, aber dafür habe ich gar keine Zeit mehr.“ Wer die Vielbeschäftigte in Aktion kennenlernen möchte, kann sie als Guide im Frankfurter Dialog-Museum erleben.

Jutta Schütz

Dialog-Museum
Hanauer Landstraße 137-145
60314 Frankfurt am Main
info@dialogmuseum.de

„Dialog im Dunkeln” kann nur in Begleitung der Guides besucht werden.
Eine telefonische Reservierung ist daher erforderlich!
Bookingline 069/90 43 21 44.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 9-17 Uhr,
Samstag, Sonntag, Feiertag 11-19 Uhr.
Langer Donnerstag: Jeden 1. Donnerstag im Monat ist “Dialog im Dunkeln” bis 21 Uhr geöffnet.

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