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Bild von Irmi Hach-Neumann

Foto: Jutta Schütz

Mein Leben mit MS

von Irmi Hach-Neumann

1989 die Welt ist im Aufbruch. Die Berliner Mauer fällt durch die unblutige Revolution der Frauen und Männer der DDR. Wie sich die Welt verändern würde nach der „Wende“, das wussten und ahnten wir damals alle nicht. Die Freude siegte auf beiden Seiten.

Etwa zur gleichen Zeit kam auch bei mir eine „Wende“. Eine Situation, die ebenfalls Unklarheiten brachte, aber keine Freude, im Gegenteil. Ein paar Tage nach meiner ersten Kernspin-Tomographie bekam ich einen Anruf meines langjährigen Hausarztes. Nach gefühlten tausenden von Jahren der Unsicherheit und unterschiedlichsten erfolglosen Behandlungsversuchen gegen die zunehmenden, nicht endenden Schmerzen, hatte er eine Antwort auf die Frage, was mich so quält. Ich weiß den Wortlaut noch in etwa: „Hallo Irmi, die Ergebnisse der Kernspinuntersuchung sind da.“ - „Was ist das Ergebnis?“ - „Ich möchte zu dir kommen und es dir persönlich sagen.“ Im Kernspin hatte sich gezeigt, dass ich MS (Multiple Sklerose) habe. Eine Diagnose, die einem vor Schreck das Blut in den Adern gefrieren lässt. Zwar hatte ich mich bereits damit beschäftigt, ich wusste aber nicht sonderlich viel über diese Krankheit und ihren Verlauf.

Das ewige Auf und Ab meiner Kräfte hatte ich schon lange beobachtet, gespürt.Bereits in der Schule in Darmstadt fiel es mir schwer, wenn ich beim Heimweg zu Fuß die Taunusstraße „bezwingen“ musste. Mal ging es ganz einfach, mal nur sehr mühsam. Während meines Studiums wurde einmal mein Kopf geröntgt wegen diesen Belastbarkeitsschwankungen. Dem netten jungen Arzt, der auf meine Frage, was ich denn habe, sehr ungenau antwortete, bin ich heute noch sehr dankbar. Ich sollte es in ein paar Jahren nochmals untersuchen lassen, da gäbe es bessere und genauere Geräte. Obwohl er sicherlich einen Verdacht auf MS hatte, gönnte er mir durch sein Schweigen noch viele schöne und einigermaßen von Krankheit unbeschwerte Jahre und drei Kinder. Damals wurde MS-kranken Frauen von Geburten abgeraten. Unter anderem wegen der Gefahr schwere Schübe zu bekommen. Nachdem ich die Diagnose MS erhalten hatte, wollte ich mehr wissen.

Was ist MS?

Multiple Sklerose, auch als Encephalomyelitis disseminata (ED) bezeichnet, ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Durch den Angriff körpereigener Abwehrzellen gegen den eigenen Körper, können im gesamten zentralen Nervensystem Schädigungen auftreten und fast jedes neurologische Symptom verursachen. Zum Beispiel Bewegungsstörungen, Lähmungen, Schluckprobleme, Gleichgewichts-und Koordinationsstörungen, Sprachstörungen, Empfindungsstörungen, Reizerscheinungen, Taubheitsgefühle, Sehstörungen, Doppelbilder und Gesichtsfeldausfälle. Diese Reihe könnte unendlich weiter geführt werden. Die Krankheit ist nicht heilbar, sagen die Ärzte. Sie ist auch nicht, so der heutige Stand der Erfahrung, vererbbar.Frauen trifft es häufiger als Männer.

Das Leben geht weiter

Zur Zeit meines ersten starken Schubs war ich verheiratet, berufstätig mit drei Kindern. Die Diagnose legte sich über mich wie schwerer, schwarzer Rauch. Die Tatsache „unheilbar“ schlug mir kalt entgegen. Ich wollte mich davon nicht einschüchtern lassen. Ich hatte doch Kinder; ich durfte und wollte mich nicht aufgeben. Die Zeit der Schübe war sehr unangenehm und beängstigend. Aber es stellte sich nach einigen Jahren heraus, dass ich keinen schweren Verlauf hatte. Meine Schübe waren mal schwererer Art, mal weniger schwer. Bildeten sich mal ganz zurück, mal nicht vollständig, und ich behielt dann kleine, kaum merkbare Behinderungen zurück. Bei den Schüben hatte ich unter anderem Augenprobleme, konnte auf einem Auge nichts sehen und auf dem anderen Auge nur wenig. Es bildeten sich alle Störungen Gott sei Dank zurück. So auch die Schluckstörungen, die Hörprobleme, die Konzentrationsprobleme, die starken Laufbehinderungen, der äußerst unangenehme Schwindel, der mich laufen ließ wie eine Betrunkene.

Nicht umsonst heißt MS „die Krankheit mit den 1000 Gesichtern“. Bei jeder/m Kranken verläuft sie anders. So ist bei mir die Hitzeempfindlichkeit sehr stark ausgeprägt. Ich brauche es immer kühl. Anderen MS-kranken Frauen ist es bei mir immer zu kalt. Aber all diese Veränderungen versuchte ich mit mehr oder weniger Geduld zu tragen. Hatte ich doch ein Umfeld von FreundInnen, die mich unterstützten. Ich ging und gehe sehr offensiv mit meiner Situation um, was mir den Alltag leichter macht. Ich verweigerte bei den Ärzten eine Behandlung mit Interferon und anderen MS-Medikamenten. Aber die vierteljährliche Cortison-Infusion nehme ich gerne an. Sie hilft mir gegen die immer stärker werdenden Schmerzen.

Meine Beweglichkeit ohne Rollstuhl will ich so lange wie möglich behalten. Die wöchentliche Krankengymnastik war und ist mir fast heilig. Lange Jahre war das auch so möglich. Es war bei mir wenig zu sehen von irgendeiner Behinderung.Ich konnte aktiv und selbstbestimmt leben. Mir war es immer wichtig und ist es noch jetzt, das Leben weiterhin positiv anzunehmen. Das Leben will ich selbst gestalten, auch wenn ich nicht weiß, was mir die nächsten Stunden an körperlicher Behinderung und Erschwernis bringen werden. Mir halfen dabei die Kuren, meine Aktivitäten jeglicher Art, die ich lange weiter wahrnehmen konnte. Gemeinsam durchstanden wir, die Erkrankung und ich, die sehr schwierige Ehezeit, die Trennungs- und Scheidungszeit. Ich wollte die Scheidung nicht, wohl wissend, dass eine Scheidung schwere gesundheitliche Folgen haben kann. Ich durchlitt die Ängste darum, wie wird es weiter gehen, werden die Kinder bei mir bleiben können und wollen? Sie sind bei mir geblieben, die Älteren sind aber dann sowieso bald altersgemäß ausgezogen. Mir war es wichtig, dass sie unabhängig von der kranken Mutter ihr Leben führen können. Die Wohnorte weit weg von zu Hause boten sich dazu an. Es folgten später der Umzug aus dem gemeinsam gewesenen Haus und all das, was eine Scheidung so mit sich schleppt.Jetzt ist auch das überstanden.

Mein Ziel ist noch heute, auf meinen eigenen zwei Beinen stehen und laufen zu können. Alle Bekannten und Verwandten wollten mich schon vor Jahren in den Rollstuhl setzen. Irgendwann brauchte ich erst einen kleinen Stock, dann eine normale Gehhilfe nach einer kleinen Knieoperation. Jetzt, nach Jahren, habe ich einen Rollstuhl, den ich zur Not benutze. Aber äußerst ungern.

Langsam wandelte sich die schubförmige MS, fast unbemerkt, in eine „sekundär chronisch progrediente Form“. Das heißt, dass die Verschlechterungen nun ohne Schübe voranschreiten. Ich wurde immer langsamer mit meinen Stöcken. Ich hatte keinen Elan und keine Lust mehr, mit anderen Menschen etwas zu unternehmen. Dann bekam ich unter Tränen die hundertprozentige Schwerbehinderung attestiert mit passendem Parkausweis: 100 Prozent behindert! Ich war sehr unglücklich. Es half aber nichts. Die Tatsachen waren so, ob ich wollte oder nicht. Mein Leben wurde immer eingeschränkter. Mich nach Heidelberg mitnehmen, das konnte ich bei meiner Langsamkeit niemandem mehr zumuten. 30 Jahre hatte ich in dieser kleinen Stadt gelebt. Viele Freundinnen und Freunde hatten mir all die Jahre zur Seite gestanden. Was will ich jetzt? Meine Gesundheit wird anscheinend nicht besser, also muss ich mich den Gegebenheiten anpassen und dahin ziehen, wo meine Möglichkeiten des Lebens breiter gestreut sein können, ich auch mehr alleine an den Dingen teilnehmen kann, die ich gerne mag.Außerdem gibt es in einer größeren Stadt mehr Angebote für behinderte Menschen.

Der Neuanfang

Unverständnis von allen Seiten. In deiner Situation! Der Neuanfang musste irgendwann kommen, bevor es zu spät würde.So schwer es für mich auch zeitweise ist, schaue ich voller Interesse nach vorne. Ich habe wieder Mut und Neugierde auf das, was ich alles noch erleben darf.

Der Umzug nach Darmstadt ist nun eineinhalb Jahre her. Ich habe ihn nie bereut, fühle mich aber gesundheitlich schwächer als zuvor. Das macht mein Leben schwieriger. Es fällt mir manchmal schwer, den Alltag einzuschätzen und zu meistern. Es finden körperliche Veränderungen innerhalb von Minuten statt. Eben noch schmerzlos, ein paar Minuten später kann ich mich kaum mehr bewegen. Hier in Darmstadt gibt es viele Hilfen, die ich vorher nicht hatte. Aber auch neue Schwierigkeiten. Straßenbahn fahren. Ausstieg auf der anderen Straßenseite. Wie komme ich bei den kurzen Grünphasen über die Straße? Wie komme ich in die Stadt zu den Ämtern? Augenarzt? Erst in fünf Monaten... Bekomme ich einen Parkplatz in der Nähe meines Zielortes, so dass ich den Weg laufen kann? Von Vorteil sind die Geschäfte, die mir die Einkäufe unentgeltlich nach Hause bringen. Anfangs bin ich in einige kleinere Läden selbst zum Einkaufen gegangen. Die Menschen sind sehr zuvorkommend. Aber sichtbare und spürbare Nervosität der anderen KundInnen halten mich heute davon ab, selbst einzukaufen. Die Stadt bietet Menschen mit Behinderungen wöchentlich einen Einkaufsdienst an. Das ist äußerst hilfreich.

Wie es mit mir weitergehen wird, weiß ich nicht. Ich habe mich einer MS- Selbsthilfegruppe angeschlossen und versuche meine neue gesundheitliche Situation in den Griff zu bekommen. Auch hier in Darmstadt stehen mir viele Menschen zur Seite, um den Neuanfang als Behinderte stemmen zu können. Bei aller Anstrengung und zeitweiser Niedergeschlagenheit habe ich Mut und freue mich darüber, den Neuanfang gewagt zu haben. Dabei geholfen hat mir auch ein Buch, das ich wärmstens empfehlen kann.

Empfehlung
Barbara Zaruba/Sonja Wierk:
Dem Leben wiedergegeben
Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2002
ISBN 3-7766-2294-6, ca. 9,99 €

Außerdem als Nachschlagewerk:
Eva Maida: Der große Trias-Ratgeber:
Multiple Sklerose
Trias Verlag, Stuttgart 2002
(erhältlich z.B. bei Amazon)
ISBN 3-8304-3026-4

Irmi Hach-Neumann

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