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Erinnerungen des Körpers

Als Kind elf Wochen im Krankenhaus – ich darf mein Bett nicht verlassen

Kürzlich habe ich wieder eins von den großartigen Büchern von Alice Miller gelesen (Evas Erwachen). Ihre These ist, dass der Körper alle Erinnerungen speichert. Neben dem, was wir erleben und erleiden und dem was wir vergessen oder nachträglich unseren Peinigern erlauben, erinnert der Körper unsere Leiden. Sie stellt Forderungen an die Psychotherapie, die Medizin und auch an die Kirche. Da der christliche Gott auf der Seite der Eltern steht, stellt sie auch Gott und seinen Vertretern sehr provozierende Fragen. Mich hat das sehr gefreut. Ich bin dankbar für die Fragen, die für einige gotteslästerlich sind, die aber meiner Meinung nach den Geist erweitern können. Sie hat sogar dem Papst geschrieben und ihn gebeten, sich eindeutig gegen das Schlagen von Kindern zu äußern. Das fand ich erheiternd, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Ich lasse meine Gedanken schweifen. Nach einiger Zeit bin ich wieder fünf Jahre alt. Beim abendlichen Töpfchengehen, war mein Pipi ganz rot gewesen. Meine Eltern waren sehr bestürzt deswegen, und meine Mutter ging mit mir zum Arzt. Daran habe ich keine Erinnerungen mehr, nur an den Weg nach Hause, wo meine Mutter versucht, mir alles zu erklären. Dann bin ich im Krankenhaus. Meine Mutter ist gerade zur Tür hinausgegangen. Ich bin noch neugierig und habe noch keine Angst. Eine Krankenschwester kommt herein und drückt mir ein Röhrchen in meine Vagina: „Jetzt pinkel mal“ sagt sie. Mir tut das etwas weh, was sie da macht. Ich habe Angst, dass ich nicht treffe. So genau kenne ich mich noch nicht aus, wo es denn rauskommt.

Weinen und Schreien unterdrückt

Von da an darf ich mein Bett nicht mehr verlassen. Ich bekomme zwei Töpfchen ins Bett gestellt, um die Endprodukte zu trennen. Klappt nicht immer. Schimpfe bekomme ich keine, aber ich weiß genau, dass die Schwestern dann richtig sauer auf mich sind. Meine Eltern dürfen mich nur vom Fenster aus sehen. Meine Mutter kommt mich besuchen. Sie steht nur am Fenster. Ich weiß nicht mehr, ob wir miteinander geredet haben. Ich weiß, ich habe immer gebrüllt, wenn sie ging. Mutti sagt später, sie hätte mich noch an der nächsten Straßenecke gehört. Ich erinnere mich: Ich brülle, eine Krankenschwester neigt sich zu mir herunter und sagt mir ins Ohr: „Wenn Du immer so ein Theater machst, darf Deine Mutter gar nicht mehr kommen.“ Ich versuche mein Weinen und Schreien zu unterdrücken.

Neben mir liegt ein Mädchen im Bett, das auf dem Bauch angebunden wurde. Es kann sich nicht umdrehen. Eine Krankenschwester sagt mir auf meine Fragen, dass ihr Bruder sie mit heißem Wasser übergossen hat. Ich überlege oft, warum er das getan hat. Was hat sie gemacht, dass er so böse geworden ist? Ich begreife noch nicht, was ein Unfall ist.

Später liegt da ein anderes Mädchen. Ihr Bett hat hohe Gitter. Sie ist aggressiv und spuckt auf mein Tablett. Ich will das Tablett nicht mehr haben und eine Krankenschwester ist großzügig und nett. Sie reinigt das Tablett und tauscht es aus. Ein Akt der Gnade im Kinderknast, der mich heute noch zu Tränen rührt. Elf Wochen lang bin ich beschränkt auf das kleine Bett, abhängig von Krankenschwestern.

Ich überlege weiter: Ich bin 15 Jahre alt und habe Schmerzen in der Leistengegend. Das legt den Verdacht auf Blinddarm nahe. Ich komme wieder ins Hospital. Natürlich muss ich auch zur Untersuchung in die Gynäkologie. Eine Ärztin schickt mich auf den Untersuchungsstuhl. Ich in arglos und neugierig. Kann mir nicht vorstellen, warum einige Angst haben. Was dann folgt, sind unglaubliche Schmerzen. Sie hat einen kleinen metallischen Gegenstand benutzt, um mich zu untersuchen. „Mit dem Spiegel werden kleine Kinder untersucht“, sagt sie gehässig. Ich darf wieder von dem Untersuchungsstuhl heruntersteigen. Während wir auf den Oberarzt warten, sitze ich auf diesem neuen Schmerz und weine. Der Oberarzt untersucht mich natürlich auch, wundert sich, dass ich weine. Er ist aber sehr vorsichtig, es tut nicht weh. Ich werde auch nicht noch einmal gedemütigt. Er sagt eigentlich nicht viel zu mir. Fragt nur vorher, was denn los sei, kümmert sich aber nicht weiter darum. Die anwesende Schwester bestätigt, dass ich vor der ersten Untersuchung kein Theater gemacht habe, aber was soll man in den wenigen Sekunden, die er zuhört, schon erklären. Er hat auch keine Lust drauf, obwohl er der ersten Ärztin einen fragenden Blick zuwirft. Ich kann das nicht einordnen. Sowieso bin ich mit mir beschäftigt. Ganz spontan hasse ich die Ärztin.

„Sie können das besser...“

Neues Bild: Ich bin längst erwachsen und bei einer Untersuchung. Es ist ein Test, der feststellen soll, ob meine Bronchien überempfindlich sind. Ich sitze in einer Kabine und bekomme sehr laute Anweisungen. „Jetzt Luft anhalten, jetzt atmen, nein normal, nicht so doll, schneller…Sie tun einfach nicht, was ich sage“, sagt die Arzthelferin ärgerlich. So geht das viermal, bis der Versuch endlich gut genug ist. „Sie können das besser, als es hier scheint“, sagt sie. Eigentlich bemühe ich mich sogar sehr, ihren Anweisungen zu folgen, das sage ich aber nicht, denn ich bin schon längst stumm geworden. Inzwischen weiß ich, dass einige ihrer Kolleginnen die Atemtechnik demonstrieren. Natürlich klappt es dann auf Anhieb.

Als wir fertig sind, versucht sie, mit mir zu plaudern. Gegen meine eigentliche Natur verweigere ich das Gespräch und auch mein Gruß ist, als ich gehe, nur gequetscht. Ich habe Angst, richtig sauer zu werden, ihr einige Sachen an den Kopf zu ballern, die ich später bereue. Vielleicht muss ich ja noch mal kommen. Ich stelle sie mir in einem Obstladen, Ware anpreisend, vor. Da gehört sie meiner Meinung nach hin.

Die Basis unseres Heilwesens ist das Machtungleichgewicht zwischen Arzt und Patient, denke ich. Da ist der oder die Kranke immer erst dann selbst verantwortlich, wenn die Ärztin oder der Arzt nicht mehr weiter wissen oder etwas Falsches passiert ist. Ich bin noch voller Zorn, als ich die Praxis verlasse.

Mir fällt ein, dass ich eine Praxishypertonie habe. Jedes mal, wenn beim Arzt gemessen wird, liegt mein Blutdruck im Nirwana. Verstehe ich nicht, sagt mein Arzt. Genau, denke ich, das kann man in den durchschnittlich 40 Sekunden auch nicht erklären.

Christiane Schäfer

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