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300 Jahre Theatergeschichte

Die Zeit ist reif für das weibliche Potential an Wissen und Können

Darmstadt blickt auf eine 300-jährige Theatertradition zurück, die im 17. Jahrhundert mit Ritterspielen und Tanz für den Adel am landgräflichen Hof begann. Das Volk besuchte die Vorstellungen von reisenden Schauspieltruppen, deren Gastspiele genehmigungspflichtig waren.

Da es Frauen verwehrt war sich einzubringen, ist die Geschichte des Theaters eine Erfolgsgeschichte von Männern. Die einzige Frau, die für ihren minderjährigen Sohn die Regentschaft übernommen, damit eine Machtposition erreicht hatte und die sich für das Theater interessierte, war die Landgräfin Elisabeth Dorothea (1640-1709).

Sie sorgte 1683 dafür, dass der Neubau des ersten Theatergebäudes, das „Komödienhaus” fertig gestellt wurde, nachdem von 1660 bis 1674 in der Reithalle am Herrngarten Theater gespielt worden war. Sie verfasste selbst eine Reihe von Singspielen, die bei Familienfesten aufgeführt wurden und berief den Kapellmeister Wolfgang Briegel und andere bedeutende Musiker nach Darmstadt. Unter ihrer Regentschaft wurde anlässlich der Verlobung ihrer ältesten Tochter unter Leitung von Briegel die erste deutschsprachige Oper aufgeführt.

Im Jahr 1687 stand in Darmstadt bei der Aufführung einer Oper neben Damen und Herren vom Hofe erstmals eine junge Sängerin namens Anna Maria Schober auf der Bühne. Das war ein Novum, denn öffentliches Auftreten als Sängerin oder Schauspielerin war Frauen durch den Einfluss der Kirche lange verboten. Erst nach und nach gelang es den Frauen die Bühne zu erobern.

1711 bei der Eröffnung des unter Elisabeth Dorotheas Sohn Ernst Ludwig umgebauten Komödienhauses zum Opernhaus wurde Christoph Graupners Oper „Telemach” aufgeführt. Dieses Theater existierte nur kurze Zeit und musste wegen finanzieller Krisen eingestellt werden. Im achtzehnten Jahrhundert kehrten reisende Theatergruppen in Darmstadt ein, danach existierte ein Theaterensemble, das zuerst in Gasthäusern und dann in der Nähe des Weißen Turms in einer zum Theater umgebauten Scheune spielte. Als der Truppe im Mai 1810 der Konkurs drohte, übernahm Großherzog Ludwig I. das ganze Unternehmen. 1819 wurde das von Georg Moller erbaute Theater eröffnet, das allen Bevölkerungsgruppen offen stand. Es wurde bis 1871 bespielt. Nach einem Brand konnte es erst sieben Jahre später wieder eröffnet werden. Im Zweiten Weltkrieg wurde es erneut zerstört und stand lange notdürftig gesichert als Ruine. Anfang der 1990er Jahre erfolgte der Wiederaufbau, allerdings mit einer Nutzungsänderung als Archiv.

1913 und 1914 spielte Vicky Baum – die später als Schriftstellerin international berühmt wurde - als Harfenistin mit dem Titel einer Großherzoglichen Hof- und Kammermusikerin am Darmstädter Theater. Sie musste dem Großherzog Ernst Ludwig vorspielen, der von dem Ballkleid ihrer Großmutter, das sie trug, hingerissen war. „Wenn ich die glücklichsten Zeiten meines Lebens aufzähle, denke ich zuerst immer an Darmstadt”, hat Vicky Baum viele Jahre später gesagt.

1919 wurde das Hoftheater zum Landestheater und das ehemalige landgräfliche Opernhaus zum Kleinen Haus. Unter dem Intendanten Gustav Hartung wurde das Darmstädter Theater landesweit bekannt. Ab 1922 ist er und die folgenden Intendanten von der Bühnenbildnerin Elli Büttner, die 43 Jahre am Darmstädter Theater wirkte, tatkräftig unterstützt worden. Zu Beginn der Hitler-Diktatur musste Hartung fliehen und auch die zum Darmstädter Ensemble gehörende 20-jährige Schauspielerin Lili Palmer, die später Weltruhm errang. Im September 1944 wurden beide Häuser durch einen Bombenangriff zerstört.Nach Kriegsende wurde in der Orangerie für fast drei Jahrzehnte Theater gespielt, der Intendant Gustav Rudolf Sellner knüpfte an die Glanzpunkte der Vorkriegszeit an.

Als das Theater in einen Neubau umzog, erfolgte 1972 die Umbenennung zum Staatstheater. Das Theater, das noch heute drei Bühnen sowie alle Werkstätten und einen großen Teil der Kulissenmagazine unter einem Dach beherbergt, wurde von 2002 bis 2006 saniert. In der Saison 2010/2011 hat das Staatstheater seine 179. Spielzeit und das Jubiläum der 300- jährigen Theatertradition gefeiert.

Seit 2004 bereichert Mei Hong Lin als Leiterin des Tanztheaters die Darmstädter Bühne. Aber noch nie hat in diesen 300 Jahren eine Intendantin oder eine Musikdirektorin am Darmstädter Theater gewirkt. Die weitaus meisten der aufgeführten Dramen, Opern und Konzerte stammen von Männern. Nur wenigen Komponistinnen oder Autorinnen ist es gelungen, dem Darmstädter Publikum mit einem Musikstück oder einem Schauspiel vorgestellt zu werden, geschweige denn mit einer Oper. Es gibt inzwischen gut qualifizierte Frauen, die schreiben und komponieren und die ein Theater leiten oder ein Orchester dirigieren können. Es dauert schon viel zu lange, bis endlich das weibliche Potential an Wissen und Können genutzt wird und damit der Blick geöffnet wird für neue Sichtweisen.

Barbara Obermüller

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