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Dr. Astrid Mignon Kirchhof
ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität Berlin (Lehrstuhl für Neueste und Zeitgeschichte)
und Leiterin eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes zur Naturschutz- und Umweltgeschichte der Bundesrepublik und DDR 1945-1989.
Ihre Forschungsfelder sind Umweltgeschichte, Industrialisierungs- und Urbanisierungsgeschichte, Frauen- und Geschlechterforschung, Geschichte des Nationalsozialismus, Migrationsgeschichte, Stadtgeschichte und Wohlfahrtsgeschichte. Die Arbeit über die Berliner Bahnhofsmission ist ihre Dissertation.

Fotorechte: privat

Entlohnung ist unweiblich

Das Ehrenamt ermöglichte es Frauen, überhaupt öffentlich aktiv zu werden, da es öffentliche Aktivitäten gesellschaftsfähig machte. Ehrenamtliche Arbeit war zum einen Befreiung, aber auch Hemmnis für bezahlte Arbeit, denn diese hatte ein eher schwieriges Ansehen in einer Zeit, in der nicht bezahlte Selbstlosigkeit gesellschaftlich anerkanntes Attribut von Frauen war. Es galt noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als unweiblich, für eine solche Tätigkeit entlohnt zu werden. Genau mit diesem spannenden Thema beschäftigte sich Astrid Mignon Kirchhof in ihrer sozial- und kulturhistorischen Arbeit über die Berliner Bahnhofsmissionarinnen.
Mathilde-Redakteurin Gabriele Merziger sprach mit der Wissenschaftlerin.

Sie haben sich in Ihrer Arbeit mit einem sehr wichtigen Frauenthema beschäftigt: der Sichtbarwerdung von Frauen im öffentlichen Raum. Wieso gerade am Beispiel der Bahnhofsmissionarinnen? Und lässt sich das Thema über Berlin hinaus deutschlandweit verallgemeinern?

Das Thema ist deshalb so gut geeignet, weil die Bahnhofsmissionarinnen einmal im bebauten öffentlichen Raum, also den Straßen, Stadtvierteln und vor allem dem Bahnhof tätig waren. Gerade der Bahnhof galt und gilt als besonders gefährlicher Raum, vor allem für Frauen. Zu Beginn meiner Forschungsarbeit an dem Buch verwunderte es mich, dass gerade an einem Ort, an dem sich Prostitution, Kriminalität und Obdachlosigkeit besonders stark zeigen, dass genau an diesem Ort Frauen gesellschaftlich anerkannt arbeiten konnten und das zu einer Zeit, als Frauen in der Öffentlichkeit nicht zum Stadtbild gehörten wie heutzutage. Diesem Phänomen wollte ich nachgehen.

Darüber hinaus konnte ich Frauen auch noch an anderen öffentlichen Orten zeigen, was wiederum für das Thema "Bahnhofsmission und Öffentlichkeit" sprach. So sind auch Vereine und Verbände solche öffentliche Orte, an denen Frauen lernten, für ihre Belange zu streiten und dadurch im öffentlichen Raum sichtbarer wurden. In meinem Buch geht es daher neben der Tätigkeit am Bahnhof auch um das Engagement von Frauen im Trägerverein der Berliner Bahnhofsmission und in dem heute noch existierenden Dachverband Deutsche Bahnhofsmission.

Das Beispiel"Berlin" lässt sich im Grunde auf jede andere Stadt und auch andere Länder, in denen es Bahnhofsmissionen gab und gibt, ausweiten. Nach der ersten Gründung in Berlin, wurde die zweite Bahnhofsmission damals in München gegründet und von dort aus verbreitete sich das Konzept, so dass mit den Jahren quasi ein bahnhofsmissionarisches Netz über ganz Deutschland gelegt wurde. Das Beispiel Berlin ist insofern aber auch einzigartig, weil es die größte deutsche Stadt und bei den Zeitgenossen als"Moloch"verschrien war. Hier, so meinten die Zeitgenossen, zeige sich durch die Urbanisierung und Industrialisierung besonders viel soziales Elend. Frauen, so befürchtete man, müssten dadurch häufiger als anderswo als Prostituierte arbeiten.

Welche Rolle spielte die Uniformierung der Frauen?

Uniformiert waren nur die Frauen, die am Bahnhof arbeiteten und dadurch im Stadtraum sichtbar waren. Im Verein und Verband waren Frauen nicht uniformiert. Auch gab es in Deutschland in meinem Betrachtungszeitraum niemals eine einheitliche Uniformierung und häufig wiesen sich die Frauen nur durch eine Armbinde aus. Für die Arbeit am Bahnhof spielte diese (Teil-)Uniformierung eine ganz entscheidende Rolle. Sie machte es den Frauen erst möglich, ihre Tätigkeit aufzunehmen und zwar deshalb, weil sie durch ihre Uniformierung als kirchlich legitimiert galten, gleichzeitig erinnerte manche Uniformierungen - wenn zum Beispiel Schürzen getragen wurden - auch an eine Schwesterntracht und das war ein "Bild" das die Menschen dieser Zeit kannten und dazu wohlwollend Bezug nahmen. Dass genau dieser Wiedererkennungseffekt wichtig war, kann man in meinem Buch an der Stelle nachlesen, als zum ersten Mal Frauen uniformiert als "weibliche Polizei" in den 1920er Jahren auftraten. Diese Uniformierung war männlich und eben nicht weiblich geprägt und deshalb waren die Polizistinnen dem Spott der Bevölkerung ausgesetzt.

Sie sprechen vom "Konzept der geistigen Mütterlichkeit" und vom "Konzept der Gefährdeten". Damit ist auf der einen Seite die vollkommen sittliche entsexualisierte Frau gemeint und auf der anderen Seite ihr gegenüber gestellt die auf Sexualität reduzierte. Wie hingen und hängen diese beiden Konzepte gesellschaftlich zusammen und was bedeuteten sie für die Frauen in ihrem (Ehren-)Amt?

Diese beiden Konzepte bedingen einander und machten das öffentliche Auftreten von Frauen, zu dieser Zeit vornehmlich als ehrenamtlich tätige Frauen, überhaupt möglich. Das Konzept der sexuell gefährdeten Frau gab den Bahnhofsmissionarinnen überhaupt erst die Grundlage ihr öffentliches Engagement zu legitimieren. Denn nur, wenn es sexuell gefährdete Frauen gab, die "gerettet" werden mussten, konnten die Frauen auf der anderen Seite, die Bahnhofsmissionarinnen, aktiv werden.

Ich konnte nie ganz eruieren, ob dieses Konzept bewusst oder unbewusst von den Bahnhofsmissionarinnen eingesetzt worden ist, denke aber, dass es beides gab: die Frauen, die sich bewusst darüber waren, wie notwendig es war, das Konzept der öffentlich gefährdeten Frau aufrechtzuerhalten und diejenigen, die sich darüber keine Gedanken machten. Eine Zweiteilung gab es aber nicht nur zwischen Frauen und Frauen, sondern auch zwischen Frauen und Männern. Einerseits, das habe ich gerade ausgeführt, gab es die sexuell gefährdeten Frauen und diejenigen, nämlich die Bahnhofsmissionarinnen, die am selben Ort, also dem Bahnhof und in der Stadt, nicht gefährdet waren, sondern Hilfestellungen leisten konnten. Andererseits wurde eben diesen vom Land in die Stadt wandernden und als in der Öffentlichkeit sexuell gefährdet geltenden Frauen Männer gegenübergestellt, die im selben Wanderungsprozess als "Wanderer" und nicht als "Gefährdete" galten. Anstatt also von binnenwandernden Menschen zu sprechen, wurde öffentlich eine Zweiteilung von Männern und Frauen diskutiert, die Männer als "Wanderer" bezeichnete und Frauen als "Gefährdete".

Wie einseitig und frauenpolitisch fatal dieses Konzept war, zeigt sich daran, dass eine Gruppe von Frauen in ihren Chancen dauerhaft beschnitten wurde. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade diese Beschränkung einer anderen Frauengruppe neue Handlungsräume eröffnete. Ich hoffe, mit meiner Arbeit auch zeigen zu können, dass wir nie von allen "Frauen" sprechen können, sondern dass sich die Lebenssituationen und die damit einhergehenden Handlungsräume zur selben Zeit am selben Ort ganz erheblich unterschieden. Manchmal war die Zugehörigkeit zu einer Schicht stärker als zum selben Geschlecht und benachteiligte oder bevorzugte ganz erheblich.

Sie haben in diversen Archiven, Vereinsregistern und anderen alten Quellen "gewühlt". Hatten sie auch die Gelegenheit, mit einer alten Bahnhofsmissionarin oder mit Nachfahren von einer zu sprechen?

Ich habe am Anfang meiner Arbeit versucht mit Bahnhofsmissionarinnen Kontakt aufzunehmen, in dem ich mit entsprechenden Kirchenzeitungen Anzeigen schaltete. Darauf kam aber nie eine Antwort. Ich hatte allerdings nach Abschluss der Arbeit - im Rahmen eines von mir zu verfassenden Artikels - mit Bahnhofsmissionarinnen hier in Berlin, am Bahnhof Zoo Kontakt.

Weitere Veröffentlichungen der Autorin:

  • Westliche Zivilisationskritik in der ostdeutschen Friedens- und Umweltbewegung, in:
    Hanno Balz/Jan-Henrik Friedrich/ Inge Marszolek (Hg.), Europäische Protestbewegung und Gesellschaft, Berlin 2011. (in Vorbereitung),
  • Der Internationale Verein der Freundinnen junger Mädchen und sein deutscher Ableger. 1877-1918, in:
    Ariadne, Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 49 (2006), S. 58-63.
www.astridkirchhof.de

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