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Foto: videobuster.de

Luis Bunuel:
Das junge Mädchen

In unserer neuen Rubrik haben wir im Filmarchiv gekramt und stellen das erste interessante Fundstück vor.

In einem kleinen Holzboot erreicht ein Schwarzer den verlassenen Strand einer Insel. Er blickt sich ängstlich um. Seine Kleidung ist schmutzig, eine Wunde an seinem Kopf mit einem schmierigen Tuch verbunden. Erschöpft schleppt der Mann sich an Land, wo ihm die Aufschrift eines Holzschildes mitteilt, dass er sich auf dem Grund eines privaten Wildgeheges (Private Game Preserve) befindet, wo unbefugte Eindringlinge die volle Härte des Gesetzes trifft. Mit letzter Kraft zieht der Mann sein Boot an den Strand und sinkt im Schatten eines Baumes nieder. Eine Rückblende zeigt seine Flucht durch nächtliche Straßen, begleitet von Stimmen. Die Schreie einer Frau werden abgelöst von den Verfolgern auf seinen Fersen, die den Vorwurf der Vergewaltigung erheben, dann Polizeisirenen. Zuletzt eine Stimme: "Ich habe gehört, dass…" Der Täter sei ein Schwarzer.

Es ist die Situation des Gerüchts, mit der Luis Bunuel 1960 die Handlung des Films "Das junge Mädchen" eröffnet. Der Rassismus im Amerika der 60er bildet ihren gesellschaftlichen und historischen Hintergrund. Ein Schwarzer wird angeklagt und gejagt. Die Frage nach Schuld und Unschuld und die Jagd im Allgemeinen bilden die Folie, auf der die grundlegende Frage nach der Zivilisation verhandelt wird.

Traver, ein der Vergewaltigung bezichtigter Musiker, trifft auf der Insel auf den Wildhüter Miller und Evalyn, das junge Mädchen, das soeben seinen Großvater verloren hat. Während Miller das Festland besucht, kauft Traver Evie Benzin und Lebensmittel ab, die er für seine Flucht benötigt. Doch muss er erst sein Boot reparieren. Der zurückkehrte Miller beginnt die Jagd auf Traver.

Es sind Bilder der Jagd, Bilder vom Fressen und Gefressen werden, die auf metaphorischer Ebene die Zivilisationskritik spiegeln: Mit einem selbstgebauten Speer fängt Traver einen Krebs, isst ihn roh, während Miller einen Hasen schießt, sein Essen von Evalyn zubereiten lässt, die er ohrfeigt, als sie ein Ei fallenlässt, der er seine schmutzigen Socken am Tisch zum Waschen hinüberreicht. Es sind stille, distanzierte Bilder, die Ressentiments spiegeln. Das rassistische Bild des schwarzen Wilden konfrontiert Bunuel mit dem Bild des scheinbar kultivierten Weißen. Er kommentiert nicht, er wertet nicht; es sind die Handlungen der Figuren und die Bilder selbst, die zu Fragen auffordern.

Zwischen Traver und Miller entfaltet sich der Kampf des Rassismus, ein brutales Wechselspiel von Macht und Gewalt, in dem stets Miller die Oberhand gewinnt. Innerhalb dieser Konstellation verkörpert das junge Mädchen zunächst die Unschuld, deren Verletzlichkeit ein faustgroßer Fleck auf ihrem Kleid schon in der ersten Szene markiert.

In ihrer Naivität ist sie es, die der Ungerechtigkeit eine Stimme verleiht, indem sie Traver Fragen stellt, indem sie ihn als Gleichen behandelt, sich über Millers Rassismus wundert. Beiden Männern reicht sie sinnbildlich einen Apfel der Verführung. Während Traver sie mit einer Jacke schützt, kleidet Miller sie aufreizend mit den Kleidern einer Erwachsenen. Nachts missbraucht er sie.

Dies nimmt ihr nicht die kindliche Naivität, die sie selbst dem Pfarrer, der sie im Auftrag der Kirchengemeinde nach dem Tod des Großvaters ans Festland holen soll, überlegen macht. Durch simple Fragen enttarnt sie die Scheinheiligkeit von Kirche und Pfarrer, der ihr durch die Taufe den goldenen Schlüssel des Glücks verspricht. Doch lässt diese Naivität Evie keinesfalls lebensuntüchtig erscheinen; im Gegenteil findet sie sich unter den rauen Lebensbedingungen auf der Insel bestens zu Recht. Ein kalkulierender Umgang mit Geld, aufgrund dessen sie den eigenen Vorteil ebenso wie die zu erwartende Geldgier und Bosheit Millers im Voraus bedenkt, zeugt von einer erwachsenen Abgeklärtheit. Nicht zuletzt offenbart ihre Bewunderung der städtischen Mode reife Züge.

Und doch ist es keine Frau, die in diesem spiegelbildlichen Gefüge der Zivilisation eine weibliche Position repräsentiert; es ist ein Mädchen, deren Kindlichkeit eine unschuldige Reinheit birgt, die der modernen Gesellschaft abhanden gekommen scheint. Eine Unschuld, die manipulier- und lenkbar ist. Nicht zuletzt spiegelt die junge und eben erwachende Sexualität des Mädchens, der in High Heels auf dem Bootssteg ‚Hüpfekästchen' spielenden Lolita, das Begehren einer männlichen Gesellschaft.

In "Das junge Mädchen" stellt Bunuel Konflikte einer Gesellschaft vor, die sich selbst als zivilisiert bezeichnet: Rassismus, Misshandlung, Missbrauch, Sexismus, Gewalt. Doch er stellt sie nur vor, seine Figuren sind facettenreich, die Repräsentanten der Konflikte bleiben jenseits Schwarz-Weiß-Zeichnung und laden nicht zur Identifikation ein, sondern zum Nachdenken.

Julia Anpach

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