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Das Leben mit und in der »Zone«

Was hat sich in den letzten Jahren im Osten getan? Was ist aus der ehemaligen DDR nach 20 Jahren Wiedervereinigung geworden? - 3 Bücher über das Thema »Osten« stellen wir Ihnen vor. 2009 erschienen drei interessante Bücher von jungen ostdeutschen Autorinnen zu diesem Thema.

 

Das erste Buch ist von Jana Hensel, der jüngsten Autorin.

Jana Hensel ist eine junge deutsche Autorin und Journalistin. Sie erhielt 2010 den Theodor-Wolff-Preis der deutschen Zeitungen für ihren Artikel "Vater Morgana" (Die ZEIT). Sie wurde 1976 in Borna geboren, studierte Romanistik und Neue Deutsche Literatur.

Schon im Vorwort zu ihrem Buch "Achtung Zone" bezieht sie Stellung "Die Ostdeutschen sind anders. Das will ich beschreiben". Dabei geht es ihr nicht um die DDR-Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. "Ich will nach den entscheidenden Prägungen und Erfahrungen der letzten 20 Jahre suchen, ohne von diesem Anderssein länger wie von einem Defizit auszugehen". Was meint sie mit dem Anderssein? Durch den Mauerfall entstand der Eindruck Ost- und Westdeutsche müssten eins werden im Sinne von gleich, alle Unterschiede sollten verschwinden. Das sieht Jana Hensel anders, "gleich bezeichnete auf beiden Seiten etwas anderes". Und weiter: "Es wird an uns liegen, die Geschichte der deutschen Einheit nicht länger und immer wieder als eine Geschichte der Anpassung erscheinen zu lassen. Weil diese im Kern zu einer Demütigung führt. Das muss sich ändern."

Der Ton ihres Buches ist ernst, manchmal ironisch, aber vor allem ist es ein politisches Buch.

Auf ihrer Reise durch Ostdeutschland versucht Jana Hensel mit Ostdeutschen über deren Nachwende-Leben zu sprechen. Häufig begegnet ihr Sprachlosigkeit, "die sich ergibt, wenn Menschen sich gezwungen sehen, das bisherige und das gegenwärtige anders zu sehen als bisher."

In ihrem Sachbuch berichtet sie über die wichtigsten Ereignisse in Ost-Deutschland nach 1989, über den Arbeitskampf der Kali-Kumpel in Bischofferode, 1993, die sich gegen die Schließung und den Abbau ihres gut funktionierenden Werkes zu Gunsten des Standorts im Westen wehrten, mit Demonstrationen und Hungerstreiks. Der Abbau war ein Politikum, keine wirtschaftliche Notwendigkeit. "Die ostdeutsche Gesellschaft ist in den letzten 20 Jahren durch den Abbau konditioniert worden. Die ostdeutsche Identität ist durch diese Erfahrung maßgeblich geprägt".

Das umfangreichste Kapitel widmet Jana Hensel den beiden berühmten ostdeutschen Schauspielern, Jenny Gröllmann und Ulrich Mühe und deren Streit, der die Medien jahrelang beschäftigte. Jana Hensel sagt dazu: "Die Umwälzungen der letzten 20 Jahre in Ostdeutschland waren rasante Entwicklungen, erschütterten das soziale Netz, die Grundlage einer Gesellschaft. ...In der Auseinandersetzung zwischen den beiden Schauspielern treten diese Erschütterungen unüberhörbar zutage". Jenny Gröllmann wurde eine angebliche IM-Tätigkeit nachgesagt. Ulrich Mühe widersprach dem nicht, belastete seine Ex-Ehefrau. - Wer nach der Wende mit der Stasi in Verbindung gebracht wurde, war stigmatisiert. Jenny Gröllmann starb am 9. August 2006 in Berlin, Ulrich Mühe am 22. Juli 2007 in Walbeck.

In vorletzten Essay ihres Buches setzt sich Jana Hensel mit der Situation der ausländischen "Gastarbeiter", besonders mit der von vietnamesischen Menschen auseinander. Sie stellt die Zusammenhänge her, warum es im August 1992 zu dem furchtbaren Überfall auf das Asylantenheim in Lichtenhagen kommen konnte. "Das Gedächtnis für so eine Tat muss jeden Tag wieder neu errichtet werden. Nicht nur in Ostdeutschland, sondern überall auf der Welt."

Im letzten Kapitel spricht Jana Hensel noch einmal über eine Sprachlosigkeit, diesmal über die der heute 60jährigen Eltern und ihren Kindern. Diese Sprachlosigkeit, mutmaßt die Autorin, könnte aus der Vergangenheit der Eltern herrühren. Die Diktatur der DDR hatte 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter für die Staatssicherheit beschäftigt, einem Staat im Staate. Die Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern konnte darüber noch nicht stattfinden.

"Dieses Buch", sagt Jana Hensel "ist aus einem Unwohlsein, das nach Veränderung drängte, entstanden. Nach einem erneuten nachdenken über den Osten".

Das zweite Buch schrieb Claudia Rusch.

Die Autorin, geboren 1971, ist an der Ostsee groß geworden. Sie studierte Germanistik und Romanistik, arbeitete als Fernseh-Redakteurin und lebt als freie Autorin in Berlin. 2003 erschien ihr Buch "Meine freie deutsche Jugend".

Mit ihrem neuen Buch "Aufbau Ost" machte sie sich auf eine Reise von Nord nach Süd in 15 frühere Bezirke der DDR. 15 Geschichten, zum Teil sehr persönliche Erzählungen. Im Bezirk Rostock beginnt Claudia Rusch über den ungeklärten Tod ihres Großvaters in der Untersuchungshaftanstalt (UHA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu recherchieren. Der Großvater war Landratsvorsitzender und Genosse, der seines Amtes enthoben wurde, der wegen "staatsfeindlicher Hetze im schweren Fall" angeklagt war und wenige Tage vor seinem Prozess starb. Nach 1989 verschwanden Stasi-Akten. Die Enkelin konnte trotz der Lücken den Mithäftling finden, der 4 Tage zusammen mit dem Großvater in der Zelle war. Es war für sie und ihre Familie sehr bewegend, mit diesem Mann zusammenzutreffen. - Das MfS in Rostock ist inzwischen Gedenkstätte und Museum.

"Die DDR war ein menschenfeindliches System, das mit Gummiparagraphen die Bürger einschüchterte. Wer sich nicht 'gesellschaftlich bewährte', dem drohte massive berufliche Behinderung, ständige Überwachung und Benachteiligung jeglicher Art. Maßregelungen und das Schüren von Angst blieben bis zum Schluss das bestbewährte Hausmittel der DDR. Jeder wusste das, auch wenn dies heute anders behauptet wird", sagt Claudia Rusch.

Im Bezirk Neubrandenburg, der Heimat ihrer Großmutter, fährt sie entlang den Flüssen Oder und Neiße bis zum Stettiner Haff, dieser Weg wurde auch als deutsch-polnischer Freundschaftsweg bekannt. Claudia Rusch erinnert sich, als DDR-Kind der gängigen Doktrin "die BRD ist gleich Faschismus, die DDR gleich Antifaschismus" widerstandslos ausgeliefert gewesen zu sein. Auch die Alten hätten dem nichts entgegenzusetzen. Eine ihrer größten Schwierigkeiten bestand darin, sich die DDR schön zureden - eine Erfahrung, die fast alle Ossis hätten, jeder auf seine Art. "Es geht nicht um eine Verdammung des Lebens in diesem Staat, es geht um eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem".

Am Ende ihres Buches setzt sich die Autorin noch einmal mit dem Anderssein von Ossis und Wessis auseinander. "Natürlich sind Ossis anders als Wessis - wir sind schließlich in verschiedenen Ländern aufgewachsen und entsprechend unterschiedlich sozialisiert. Aber das sind kulturelle Unterschiede, keine Qualitätsmerkmale".

Ihr letztes Reiseziel ist Berlin, in dieser ständig wachsenden Stadt vermischt sich die Herkunft schneller als anderswo. Das Buch ist ein ganz persönlicher Reisebericht durch Ostdeutschland vor 1989 und 20 Jahre danach.

Das letzte Buch ist das berührendste der drei Bücher,

es ist eine Recherche über Autorinnen, deren Texte während der DDR-Zeit nicht veröffentlicht wurden.

Ines Geipel ist Schriftstellerin, Professorin für Vers-Sprache in Berlin und ehemalige Weltklassesprinterin. In ihrem neuesten Buch porträtiert sie ostdeutsche Autorinnen, die unter der SED-Herrschaft im Zuchthaus zu Tode kamen, sich das Leben nahmen oder in der Psychiatrie lebten. Einige Frauen, die jüngeren, überlebten den SED-Staat.

Ines Geipels Buch ist genau recherchiert und ohne Pathos. Es lohnt sich nicht nur deshalb das Buch zu lesen, weil die Verstrickungen der literarischen Szene in der Diktatur bloßgelegt werden, sondern der literarischen Entdeckungen wegen. Ines Geipel ist die Mitherausgeberin der »Verschwiegenen Bibliothek«, die in der Büchergilde erschienen ist.

Veronika Diebel

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