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»Gab’s bei euch Bananen?«

Annett Keller, Jahrgang 1978, war in der 6. Klasse, als die Mauer fiel. Über die Auswirkungen auf das Leben eines Kindes in Dresden sprach Gabriele Merziger mit der jungen Mathematikerin, die heute in Griesheim lebt und in Mainz arbeitet.

 

Annett Keller ist ein Ostkind. Beim Mauerfall war sie elf und schlief tief und fest in ihrem Bett. Aber nicht nur sie, sondern "auch meine Eltern haben das Ereignis verpennt", sagt sie. "Das lag daran, dass meine Eltern just an diesem Abend früh zu Bett gegangen sind und die Meldungen im Fernsehen und Rundfunk nicht mitbekommen haben." Und wie war das dann am nächsten Morgen? "Ich erinnere mich überhaupt nicht an diesen Tag. Ich weiß nur aus Erzählungen, dass meine Eltern die Nachricht zunächst für einen Scherz gehalten haben."

Viele Ereignisse dieser Zeit liegen in einem Erinnerungsnebel, von dem sie nicht mehr weiß, welche Teile sie selbst mitbekommen hat und welche nachträgliche Erzählung sind. Sie denkt, dass die Erinnerungen an die Demonstrationen in Dresden zum Teil aus eigen erlebten Bildern resultieren. Sie weiß, dass auf Honecker Krenz und auf diesen Modrow folgte, weil zu Hause darüber gesprochen wurde. Und sie erinnert sich, dass immer wieder Leute aus der Nachbarschaft für ein paar Tage verreisten, um mal zu schauen, wie es so im Westen ist. Aber eine genaue zeitliche Zuordnung oder gar eine Auseinandersetzung mit der Thematik hat sie nicht in der Kinder-Erinnerung. Ein einzelnes konkretes Ereignis blieb wirklich haften, aber das geschah schon im Sommer zuvor. "Es war die Zeit, als die Ausreisewelle über Ungarn begann. Ich war im Ferienlager und meine anvisierte Gruppenleiterin kam nicht, weil sie abgehauen war. Das war wahrscheinlich das erste Mal, dass etwas einen für mich bewussten Einfluss auf mein Leben hatte, das mit Ost-West zu tun hatte." Die Situation im Sommer und Herbst 1989 war eine Umbruchzeit, doch auf ein Kinderleben in einer wohlbehüteten Familie hatte es keine wirklich große Auswirkung - noch dazu im "Tal der Ahnungslosen", wie Annett Keller Dresden mit einem Grinsen nennt. "Dresden liegt in einem Funkloch, das heißt: es gab kein Westfernsehen. So drang im Vorfeld des Mauerfalls nur wenig West-Information zu uns durch. Im DDR-Fernsehen wurde natürlich auch über die Ausreisewelle und die politischen Veränderungen berichtet, aber eben gefiltert und aus politisch korrekter Sicht - das Korrekt in Anführungsstrichen."

Nach dem Fall der Mauer zog der Westeinfluss über die ehemalige DDR und damit gab es natürlich auch für Kinder spürbare Veränderungen. "In den Schulen wurde der Samstagsunterricht abgeschafft und Noten gab es nun von eins bis sechs statt bis fünf. Das Fach Staatsbürgerkunde wurde ganz schnell aus dem Lehrplan gestrichen. Ob sich sonst etwas am Unterrichtsstoff geändert hat, das kriegt man als Kind in der Schule ja nicht mit, weil Unterricht etwas ist, das konsumiert wird - zumindest bis zu einem gewissen Alter frisst man das, was einem vorgesetzt wird, ohne zu überlegen, ob es aus Ost oder West oder sonst woher kommt."

Ja, und dann gab es noch die Pionierorganisation in der Schule. "Die wurde ebenfalls ganz schnell abgeschafft, was ich aber als Kind überhaupt nicht gut fand, denn ich wollte so gerne noch FDJler werden", lacht sie. "Nicht aus politischen Gründen, sondern aus ganz profanen kindlichen. Die FDJler waren die Großen in der achten bis zehnten Klasse. Sie hatten die Aufsicht über uns Kleine. Wir mussten beim Appell auf den Gruß der Lehrer unsere Bereitschaft kundtun, während die Großen auf den Lehrergruß Ich grüße euch mit Freundschaft die Antwort Freundschaft gaben. Und das wollte ich als Sechstklässlerin auch gerne rufen. Da ging es überhaupt nicht um Politik, sondern ums groß sein und um Emotion: Freundschaft hat schon einen hehreren Klang als Bereitschaft."

Und in den Ferien ging es mit der Jugendgruppe ins Ferienlager. War das üblich? "Bei uns ja. In meiner Klasse sind fast alle ins Ferienlager gefahren. Natürlich gab es auch Kinder, die den Sommer bei ihren Großeltern verbrachten oder zu Hause. Aber im Vergleich zum Westen waren Pionierlager normale Ferienbeschäftigung."

Gab es auch Eltern, die ganz bewusst nicht wollten, dass ihre Kinder in ein staatliches Ferienlager fahren? "Ja, klar. Es war aber für die meisten eine prima Alternative zum Hort, da Eltern üblicherweise keine acht Ferienwochen Urlaub hatten und nicht in jedem Fall Großeltern zur Versorgung der Kleinen da waren. Die meisten Menschen waren aber mit staatlichen Einrichtungen zur Kinderversorgung sehr zufrieden, zumal wir dort ja auch sehr liebevoll betreut wurden. Allerdings habe ich später - nicht als Kind - durchaus von kritischen Haltungen gegenüber der Pionierorganisation gehört, insbesondere von in der Kirche aktiven Menschen." Und mussten diese mit Repressalien rechnen? "Ja, meines Wissens schon. Zumindest was den Bildungsweg der Kinder betraf. Ihnen stand nicht jeder Studien- oder Ausbildungsplatz zur Verfügung."

Ihr wart aber nicht wegen eines Ausbildungsplatzes im Ferienlager? "Nein, durchaus nicht. Die Ferienlager waren sehr billig. Jeder konnte sich leisten, die Kinder hinzuschicken. Zwölf DDR Mark für zwei Wochen Harz all inclusive, das war auch für DDR-Zeiten sehr sehr günstig. Was ich damit sagen will: Es wurden keine Kinder aus finanziellen Gründen ausgegrenzt. Als politisch kann man sie insofern bezeichnen, als dass es am ersten und am letzten Tag einen Appell zur Begrüßung und zur Verabschiedung gab. Aber eine gute Jugendgruppenleitung macht das auch im Westen. Das politischste waren die Namen der Lager. Sie waren oft nach einem antikapitalistischen Vorkämpfer benannt. Auch das müsste in Anführungsstrichen stehen, weil es ein Westbegriff ist. Manchmal hatte der Name auch einen Bezug zur Arbeitswelt, wie zum Beispiel Schwarze Pumpe im Zusammenhang mit dem Kohleabbau. Das aber war für uns Kinder nicht wirklich von Bedeutung. Ansonsten unterschieden sich diese Ferienlager nicht von denen im Westen - weder was das Basteln, noch was die Wanderungen oder andere sportlich-spielerische Aktivitäten betraf." Soweit zum öffentlichen Leben einer Elfjährigen. Was aber hat sich im privaten Umfeld verändert?

"Zu Hause bei mir hat sich zunächst einmal nichts Grundlegendes geändert. Meine Eltern sind beide Diplommathematiker und hatten qualifizierte Jobs in der Computerindustrie. Sie waren politisch interessiert und es wurde auch über Politik gesprochen, aber sie waren keine Aktivisten. Insofern lief das Familienleben eigentlich normal weiter." Ein paar Neuerungen gab es dann aber doch.

"Neu war, dass wir nun anfingen, jeden Tag beim gemeinsamen Abendessen Nachrichten zu schauen. Dabei fällt mir ein, dass ich mich über ein Interview aufgeregt habe, das mit zwei älteren Westdamen geführt wurde. Deren Aussage war: Die Ossis sollen erst mal lernen zu arbeiten." Das fand sie ziemlich borniert und anmaßend und sie erinnert sich, dass sie sich sehr darüber aufgeregt habe. So wie sie auch heute noch Fragen von Wessis anmaßend findet, die tatsächlich wissen wollen, ob es in der DDR Bananen gab. "Ja, es gab Bananen und es gab auch Orangen, die hießen allerdings ‚Kuba-Orangen', weil sie von dort kamen. Und nein, ich habe als Kind nichts vermisst oder ein großartig anderes Leben gehabt als ihr", ist ihre Antwort auf solche Fragen. Doch es ärgert sie, dass sie als Ostkind über den Westen sehr viel mehr wusste, als diese scheinbar so weltoffen erzogenen Westler.

Und was hat sich weiterhin im privaten Bereich für das Kind Annett geändert? "1990 wären bei uns die zehn Jahre Wartezeit auf einen neuen Trabi abgelaufen. Doch jetzt hat mein Vater einen gebrauchten, aber gut erhaltenen Opel Ascona gekauft und wir haben den ersten Urlaub mit einem West-Auto gemacht." Urlaub ist ein weiteres Stichwort. Wie war Urlaub in deiner Kindheit?

"Unsere Urlaube waren immer irgendwo in der DDR. Wir waren ganz oft am Stausee in Bautzen." Für Familien gab es dort Bungalows des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes - kurz: FDGB. Die Betriebe bekamen immer bestimmte Kontingente, die sie an ihre MitarbeiterInnen vergeben konnten. "In diesem Zusammenhang werde ich von Westlern auch immer nach FKK in der DDR befragt." Sie schmunzelt. "Aber leider wird im Westen nicht verstanden, dass FKK nicht unbedingt Programm sein muss. Das Selbstverständnis mit Körperlichkeit einfach umzugehen, so wie jede und jeder es möchte, ob mit oder ohne Textilien, das gibt es im Westen scheinbar nicht. Manchmal denke ich, im Westen ist trotz aller Liberalität nichts selbstverständlich - weder dass Frauen arbeiten, noch dass betreute Kinder ein enges und glückliche(re)s Verhältnis zu ihren arbeitenden Eltern haben, noch den Umgang mit ihrem eigenen Körper." Ob sie ihre Kindheit als glückliche sieht will ich wissen.

"Ich hatte eine wundervolle Kindheit", sagt Annett Keller. "Meine Eltern hatten zu DDR-Zeiten, obwohl beide berufstätig waren, sicher mehr Zeit für mich und meinen Bruder, als sie es heute zu Westzeiten hätten. Erstens war die Kinderbetreuung bestens organisiert, denn es war selbstverständlich, dass Frauen und Männer arbeiten. Zweitens waren die Wochenenden immer Eltern-Kind-Wochenenden, an denen wir was unternahmen. Mein Vater beispielsweise hat mich durch jedes Museum in Dresden geschleift. Es war toll mit ihm unterwegs zu sein und die Aufmerksamkeit zu haben. Wenn ich sehe, wie sich die Arbeitswelt verändert hat, wie viel Job meine Eltern heute mit nach Hause bringen - auch am Wochenende -, da bin ich schon glücklich, in einer anderen Zeit aufgewachsen zu sein.

" Hat sich bezüglich der Arbeit sonst noch etwas verändert? "Das ist schwierig", überlegt sie. "Ich weiß, dass über die Situation in der Firma meines Vaters bei uns gesprochen wurde, aber was genau, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch jetzt im Nachhinein, dass viele Menschen große Probleme hatten, was ihre Arbeitsplätze nach der Abwicklung durch die Treuhand betraf. Betroffen davon war auch meine Mutter, die ihren Arbeitsplatz in ihrer alten Firma erst einmal verlor." Es sei wohl ein durchaus typischer Verlauf gewesen: Nach der Abwicklung arbeitslos, daraufhin folgte eine Umschulung und neue Arbeit. "Die genauen Zeitabläufe habe ich nicht mehr in Erinnerung. Meiner Mutter ist es zwei Mal passiert. Allerdings waren es keine wirklich langen Zeitabstände. Ihre Arbeitslosigkeit und die Umschulungen dauerten jeweils knapp ein Jahr. Meine Eltern arbeiten heute beide in ihren erlernten Berufen."

Zum Abschluss möchte ich noch wissen, ob es einen Ost-West-Unterschied gibt, der für ihr Leben heute relevant ist. "Ich fahre auch heute noch oft nach Dresden - nicht nur weil ich dort Familie und Freunde habe, sondern weil ich mich im Osten wohlfühle. Es geht mir auch noch nach vielen Westjahren so, dass ich das Gefühl habe, anders zu ticken." Gibt es ein Beispiel? "Spontan fällt mir ein, dass ich sehr oft bitte-danke sage, immer, auch an der Käsetheke im Supermarkt. Das tun die Wessis nicht in diesem Ausmaß. Während ich damit hier auffalle, ist es bei den Ossis meiner Heimat völlig normal, auch mehrmals hintereinander bitte zu sagen." Aber das sei nicht wirklich relevant fürs Leben. Was sie allerdings nach wie vor ärgert, sind die Menschen, die pauschal Ostklischees nachplappern und sie damit in eine Schublade stecken. "Mich stört nicht, dass sie unwissend sind, sondern dass sie Klischees einfach nachplappern, wie in einem schlechten Ossi-Witz. Und das tun durchaus gebildete Menschen des Westens. Ich musste zwar einige politische Bildungslücken der Nachkriegszeit schließen, die bei uns nicht gelehrt wurden, aber alles, was davor war, habe ich in der Schule intensivst behandelt. Und ich muss niemanden fragen: Gab's bei euch Bananen?".

Gabriele Merziger

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