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»Wind of Change«

beobachtet von drei Generationen

Drei Frauen aus drei Generationen einer ostdeutschen Familie erzählen aus ihrem Leben früher und heute, über ihre Eindrücke zur Wiedervereinigung und über Vor- und Nachteile DDR versus Westdeutschland. Interviewt wurden die 20jährige Annalisa Reiche (Studentin Wirtschaftswissenschaften und Psychologie), ihre Mutter Antje Reiche, 44 Jahre (Projekt-Assistentin in der Erwachsenenbildung) und Großmutter Urte Striegler, 69 Jahre (Rentnerin).

Ihr habt schon vor der Wende in Chemnitz gelebt und wohnt dort heute noch. Wie habt Ihr die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten erlebt?

Annalisa: Ich kann gar nicht so viel dazu sagen, ich bin einen Monat bevor die Mauer fiel in der ehemaligen DDR geboren. Das heißt, ich habe gar keine Beziehungen dazu, außer dass die DDR als Geburtsland in meinem Ausweis steht. Witzig finde ich, dass meine Geburtsstadt Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) und mein Geburtsland überhaupt nicht mehr existieren. Also ich bin ganz normal aufgewachsen, wie jedes andere Westkind auch, aber eben halt in Ostdeutschland. Ich studiere jetzt Wirtschaftswissenschaften und Psychologie in Halle.

Antje:
Mich hat beides sehr stark geprägt. Ich habe sowohl Ost- als auch Westdeutschland und die Wiedervereinigung sehr bewusst erlebt. Als die so genannte "Wende" kam, war ich gerade Anfang 20. Ein Alter, in dem der Mensch schon einige Zeit gelebt und erlebt hat und normalerweise am Beginn des Berufslebens steht. Und bezüglich meines Berufsweges hat mich die Wiedervereinigung schon sehr betroffen. Ich habe Maschinenbau studiert. Als 1989 Annalisa geboren wurde, da war ich fast fertig mit dem Studium und habe schon in einem Maschinenbaubetrieb in Karl-Marx-Stadt gearbeitet. Nach der Wende gingen die ganzen Maschinenbaubetriebe mehr oder weniger den Bach hinunter, wurden an die Treuhand oder Westunternehmen verkauft. Also mein Betrieb wurde auch abgewickelt und aufgelöst und ich war arbeitslos. Mein Mann studierte zu diesem Zeitpunkt noch, aber zum Glück hatten wir keine finanziellen Sorgen.

Ich habe dann 1991 ein Jahr lang eine Fortbildung als Technikinformatikerin gemacht. 1992 war ich arbeitslos und ein Jahr später habe ich mich selbstständig gemacht und Software-Dokumentationen geschrieben. Irgendwann habe ich mich auf eine Stellenanzeige für eine Projektassistentin der Technik-Universität in Chemnitz beworben und wurde glücklicherweise angenommen. Damit begann mein neuer Berufsweg in der Erwachsenenbildung, der sehr abwechslungsreich ist und mir sehr viel Spaß macht.

Urte:
Wir hätten uns das nie träumen lassen, dass das mal so kommt. Obwohl mein Vater immer gesagt hat, "Ihr werdet die Einheit noch erleben". Für mich hat die Wende keinen Nachteil gebracht. Mein Berufsweg in der DDR war immer durchgängig, ich habe immer gearbeitet, trotz Kind. Antje war im Betriebskindergarten gut aufgehoben. Ich habe immer eine gute Stelle gehabt und nie Nachteile in beruflicher Hinsicht. Wir haben natürlich auch versucht, uns anzupassen.

Nach der Wende habe ich mich umstellen müssen. Ich habe zuletzt in einer Produktionsgenossenschaft - einer Kfz-Werkstatt von Opel - gearbeitet, die nach der Wiedervereinigung einen westdeutschen Partner bekam. Da musste ich im Betrieb viel Neues lernen. Es wurde nicht viel Rücksicht genommen, wir mussten Willen zeigen. Wer es nicht gepackt hat, na ja…. Also ich habe dort gearbeitet, bis ich 1999 in Rente gegangen bin. Ich hatte Glück, es war ein sozialer Betrieb unter westdeutscher Leitung. Ich habe immer noch Kontakt zum Betrieb, werde jedes Jahr zur Weihnachtsfeier eingeladen und es gibt noch immer einen Zusammenhalt unter den Leuten.

Seht Ihr Vor- oder Nachteile im Vergleich DDR und Westdeutschland?

Annalisa:
Ich kann ja nicht vergleichen. Wie gesagt, habe ich auch keinen großartigen Bezug zur DDR, dem Leben früher dort oder dem System. Es interessiert mich schon und ich rede mit meiner Mutter und meiner Oma darüber, aber es interessiert mich genau so viel oder wenig wie zum Beispiel die Weimarer Republik. Und ich denke, die Erzählungen von meiner Mutter und von Oma sind so, wie Mütter und Omas ihren Töchtern bzw. Enkeltöchtern erzählen "ja, früher war das so und so"! Genau wie im Umgang zwischen den Generationen in Westdeutschland.

Die Fragen danach ärgern und stören mich manchmal ziemlich, weil ich das Gefühl habe, die Westdeutschen betrachten uns oft als ein bisschen blöd oder dass wir anders sind. Dass wir die ganze Zeit darüber nachdenken, jetzt so leicht Bananen kaufen zu können.

Gerade Jugendliche fragen manchmal nach Sachen, die in der DDR typisch waren. Ja hallo, wir sind genauso zivilisiert wie Ihr. Ich habe schon manchmal das Gefühl, dass die uns für Hinterwäldler halten und es ärgert mich total, wenn die auf uns herabsehen. Wenn da Fragen kommen: Gibt es bei Euch denn schon normale Autos. Ich werde damit etwas verbunden, mit dem ich persönlich gar nichts zu tun habe.

Antje:
Vom Materiellen her hatten wir in der DDR keinen Mangel. Meine Tante lebte im Westen, wir haben Westpäckchen bekommen und Westfernsehen geschaut. Ost und West waren in unserer Familie präsent. Mein Opa war dem Sozialismus nicht wohl gesonnen und meine Eltern standen ihm kritisch gegenüber. Wir hatten eine Bindung zu der Kirche. Ich habe schon bewusst einen Zwiespalt zwischen dem Elternhaus und der Ideologie, die an der Schule herrschte, wahr genommen. Ich hätte gerne Journalismus studiert, aber das war natürlich total ideologisch durchsetzt und das kam für mich nicht in Frage.

Also direkt ein Unterschied! Es sind inzwischen 20 Jahre her seit der Wende und da ja nichts statisch bleibt, hätte sich sicher auch in der DDR das eine oder andere verändert. Es ist gut, dass wir hier eine normale Demokratie haben. Aber es gibt auch Punkte, die in der DDR besser waren. Wenn ich an die Bildung denke. Diese war in der DDR sehr ideologisch geprägt, aber ich kann mich nicht erinnern, dass in der Schule Kinder zurückgelassen wurden. Oder Kinder in Elternhäuser aufwuchsen, die so problematisch sind wie teilweise hier. Sobald irgendetwas nicht in Ordnung war, wurde von den Hortlern (Betreuer) oder Lehrern nachgefragt. Jeder hatte die Chance, eine Ausbildung zu machen, jeder wusste, wenn er aus der Schule kommt, findet er einen Beruf und eine Arbeitsstelle. Junge Menschen werden hier oft an der Schwelle zum Erwachsenwerden alleine gelassen oder sie wachsen in Familien auf, wo schon die Eltern Hartz IV bekommen und sich keiner um sie kümmert. Da ist es schwierig, eine gute Entwicklung zu machen.

Wir hatten das durchgängige Bildungssystem bis zum 8. Schuljahr, da haben alle gemeinsam gelernt, von der 9. bis zur 12. Klasse sind wir auf die EOS gegangen und haben Abitur gemacht. Wir hatten immer nur 12 Klassen bis zum Abitur. In der DDR sagten die Leute: Na ja, die 13. Klasse beim Abi im Westen ist Schauspiel-Unterricht. Es ist ja oft so, dass Leute, die im Westen aufgewachsen sind, sich besser darstellen und reden können, als dies bei den Menschen aus dem Osten der Fall ist.

Urte:
In der DDR hatten wir teilweise eine schlimme Zeit, weil die Stasi ja überall war. Mein Mann und ich standen ja, wie gesagt, dem Sozialismus kritisch gegenüber und es ist zum Beispiel aufgefallen, dass die Antje kirchlich engagiert war und zu bestimmten Veranstaltungen hingegangen ist, was auch von der Schule nicht gerne gesehen wurde. Die Stasi hat versucht, an meinen Mann ranzukommen und hat uns auch zuhause besucht. Zum Glück sind sie nicht wieder gekommen. Wir haben nach einiger Zeit an den Montags-Demonstrationen teilgenommen, da wurden im Betrieb schon immer Verabredungen getroffen. Wie gesagt, mit der Stasi war das eine schlimme Zeit, da ist es natürlich heute toll, ohne Angst und Bespitzelungen leben zu können.

Helge Ebbmeyer

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