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Wird Deutschland von fremden Kulturen überrollt?

Überfremdung, heißt es im Duden, ist etwas, dass das Eigene mit fremden Einflüssen durchsetzt, etwas, das darin beherrschend wird. Umgangssprachlich wird das Wort gleichbedeutend für übermäßigen Einfluss fremder Kulturen auf die Kultur in Deutschland verwandt.

Dies erweckt den Anschein, Kultur sei etwas aus sich selbst Entstandenes, etwas, das schon immer so und nicht anders vorhanden war und nur freigelegt werden müsse. Als sei Deutschland ein abgeschlossener Raum, sowohl zeitlich als auch geografisch, in dem sich eine Kultur Deutschlands entwickeln konnte. Der Vergleich mit einer Bakterienkultur in der Petrischale liegt nahe.

Aber Kultur ist die bearbeitete Umwelt des Menschen. Kulturleistungen sind materiellen und geistigen Ursprungs wie Architektur, Technik, bildende Kunst oder wie etwa Recht, Moral, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Bearbeitung der Umwelt setzt also einen bewussten Willen zur Auseinandersetzung mit dem Gegebenen voraus.

Dass es Deutschland mit seinen heutigen kulturellen Eigenheiten so nicht immer gegeben hat, wissen alle. Aber das Wort Überfremdung soll Ängste der »Ureinwohner/innen« wecken, die Angst vor dem Verlust von kultureller Identität und Unsicherheit schüren, die Angst vor dem »Nicht-mehr-dazu-Gehören« oder gar vom Verschwinden des Eigenen. Aber die so genannte gemeinsame Identität oder das vermeintlich Eigene, welches hier immer untergeschoben wird, ist bei näherem Hinsehen alles andere als homogen und verbindend. Es würde sonst bedeuten: Alle, die sich Deutsche nennen, haben die gleichen Traditionen, Vorlieben, Vorstellungen von Lebensentwürfen, Moral und so weiter.

Drei Denkanstöße möchte ich gegen diese Vorstellung des »ureigenen Deutschen« geben. Als erster Denkanstoß sei hier der Bildungssektor angeführt. Die Bildungstraditionen der Bevölkerung sind sehr unterschiedlich. Nach wie vor ist es in Arbeiterfamilien so, dass Kinder und Jugendliche etwas »Handfestes« lernen sollen und Kinder aus Akademikerfamilien werden auf das Gymnasium geschickt. Allein diese Unterschiede machen aus der homogenen Gruppe »der Deutschen« eine heterogene Gruppe mit krassen Unterschieden an Chancen, Teilhabe und Mitbestimmung.

Man könnte aber immer noch glauben, es gäbe ein »urdeutsches« Gemeinsames zu verteidigen. Hierzu sei als zweiter Denkanstoß gesagt, dass Deutschland immer ein Einwanderungsland war und vielen unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt, die befruchtend aufgenommen wurden. Ein paar wenige Beispiele: Bereits im 15. Jahrhundert wird Dürer, vermutlich durch die Mehmet-Medaille Constanzo da Ferraras, zu einer Zeichnung eines osmanischen Reiters inspiriert, der weitere orientalische Motive folgen sollten. Auf Gemälden von Holbein sind türkische Teppiche abgebildet, die vom Reichtum der dargestellten Personen zeugen. Im 19. Jahrhundert ist der Orientalismus in der Malerei Zeugnis von nationaler Identitätsstiftung, in denen ein »Wir« und »die Anderen« erzeugt wird.

In der Architektur wurden im 19. Jahrhundert viele Gebäude in Form von türkischer Sakralarchitektur gebaut, zum Beispiel die Zigarettenfabrik in Dresden oder das Dampfmaschinenhaus in Potsdam. Zu guter Letzt der deutsche Reichstag: Der Entwurf für den jetzigen Bau stammt von dem englischen Architekten Norman Foster. Viele Pflanzen, die uns heute alltäglich erscheinen, sind mal »Exoten« gewesen. Die Rosa damascena durch Kreuzfahrer im 13. Jahrhundert oder Tulpen aus der Türkei, als Zeichen diplomatischer Beziehungen im 16. Jahrhundert bei uns eingeführt. Und die »urdeutsche« Kartoffel wurde aus Südamerika importiert. In der deutschen Sprache gibt es viele Wörter wie Sofa, Heckmeck, Schlamassel, Portemonnaie oder Kaffee, die keine Fremdheitsgefühle in uns hervorrufen.

Schließlich ein dritter Denkanstoß: Wenn das Wort Überfremdung der eigenen Kultur ins Spiel kommt, werden die wenigsten zum Beispiel an Schweizer, Franzosen oder Österreicher denken, sondern eher an Menschen aus der Türkei, Iran oder Marokko. Und vermutlich am wenigsten daran denken, dass Menschen mit deutschem Pass und Migrationshintergrund, Deutsche sind, die diese Kultur mitgestalten. Stets soll sich Mensch auch hier im Sinne einer Einheitskultur ausweisen und festlegen auf ein »Entweder-oder«.

Man muss sich also fragen, warum »Überfremdung der eigenen Kultur« immer wieder als Schlagwort in den Medien oder an Stammtischen auftaucht. Was hier nämlich mit dem Begriff Überfremdung versucht wird, ist, Panik vor Bürger/innen mit Migrationshintergrund zu machen, und das ist letztlich nur Wegbereiter und Legitimationsfloskel für Rassismus.

Heike Smykalla

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