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Laut einer Mitteilung des statistischen Bundesamtes in Wiesbaden besuchten im Schuljhr 2006/07 rund 892.000 Schüler und Schülerinnen in Deutschland private Schulen. Das waren 2,2 Prozent mehr als im Vorjahr.   Der Anteil der PrivatschülerInnen an allen SchülerInnen liegt bei 7,3 %. Am häufigsten sind PrivatschülerInnen in Gymnasien anzutreffen. Rund jede/r zehnte GymnasiastIn besuchte im Schuljahr 2006/07 eine Privatschule. Dabei gab es deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern (siehe Tabelle unten). Mädchen sind mit 12,2 Prozent aller PrivatschülerInnen an Gymnasien häufiger vertreten als Jungs (9,1 Prozent). In privaten Gymnasien waren die Klassen im Sekundarbereich I (Klassenstufen 5 bis 10) mit durchsnittlich 26,8 Schülern etws kleiner als in öffentlichen Gymnasien (27,3).

Bildungshysterie

Rundumförderung um jeden Preis?

Eltern haben das Vertrauen verloren – das Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit ihrer Kinder, das Vertrauen in unser Schulsystem und das Vertrauen in ihre Liebe, die unabhängig von Zukunfts- und Karriereplänen Rahmen schafft für eine gesunde Entwicklung der Nachkommen. Medienpräsens erhalten diese Themen vor allem durch Studienergebnisse, die für sich Ursachenforschung in Anspruch nehmen, aber letztendlich nichts anderes sagen, als: es gibt Eltern, die sich überhaupt nicht um ihre Kinder kümmern und es gibt Eltern, die nichts anderes mehr tun, als ihre Kinder zu fördern. Beides führt zu Angst und Schrecken. Plakativ gesagt: die Verwahrlosten scheitern komplett oder enden im Amoklauf, die Bildungsgeförderten bekommen keine Chance, weil das System diese verhindert. Schlagwörter, wie »Bildungskatastrophe« und »Dramatische Zustände an Schulen« geistern fast täglich durch die Presse. Das Dazwischen ist wenig medienpräsent.

»In Deutschland sind die Mütter wie Lehrerinnen«, sagte mir eine Freundin aus Bosnien. »Sie reden ununterbrochen auf ihre ganz kleinen Kinder ein. Die dürfen nicht mal alleine im Sandkasten spielen.«

Nichts falsch machen, keine Chance versäumen, ihre Kinder überall zu fördern, alles rechtzeitig in die richtige Bahn lenken, das sind Themen, die vor allem die Mittelschicht in Deutschland trifft. Seit der ersten Veröffentlichung der Pisa-Studie wird Panik gemacht, dass die zukünftigen Karrieren möglicherweise nicht mehr in die richtigen Bahnen kommen. Und die Auswirkungen davon sehen wir bereits auf dem Kinderspielplatz – und es verwundert, wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden. Haben wir uns doch nichts dabei gedacht. Wir wollten nur das Beste.

Es folgt die Auswahl des Kindergartens, der Grundschule, der Kampf um die Gymnasialempfehlung, die Förderung der Talente von musischer über sprachlicher bis sportlicher Art. Fördermaßnahmen über Fördermaßnahmen verschleiern den Blick für das Kind aus der Angst heraus, irgend ein Genie-Gen in den Tiefen schlafen zu lassen. Eltern gehen teilweise an ihre finanzielle Belastbarkeit, um ihren Kindern die besten Bildungschancen zu bieten. Die Wahl privater Schulen ist ein Trend, der sich nach der ersten Pisa-Studie veränderte. Während im Jahr 2001 etwa 45.000 Kinder Grundschulen privater Träger besuchten, stieg die Zahl laut einer Spiegelreportage (24/2007) im Jahr 2006 auf 68.000 an. Insgesamt hat sich die Zahl der Privatschulen in Deutschland seit 1992 verdoppelt. Die Wartelisten sind lang. Mit der Bildungsbeflissenheit lässt sich scheinbar sehr gutes Geld verdienen.

Doch nicht nur die Auswahl der besten Bildungseinrichtung und die Förderung der Talente ist ein großes Thema, auch jeder Mangel soll von vornerherein ausgeschlossen und – falls doch vorhanden – durch frühstkindliche Therapie in den Griff bekommen werden. KinderpsychologInnen testen und testen, die Themen der Tests werden immer spezieller. Das Spektrum, das heute noch als »Normalität« gesehen wird, ist sehr viel enger, als noch vor zwanzig Jahren, sagt eine Kinderspychologin aus Bensheim. »Wir haben inzwischen ein sehr enges Raster, in dem sich sogenannte gesunde Entwicklung bewegt.«

Die Pisa-Studie ist sicher nicht die einzige Ursache für die Bildungsbeflissenheit vieler Eltern. Presse und Politik heizen die Diskussion nachträglich an. Natürlich wollen alle das Beste und engagierte Eltern sind sicher nicht gleich schlechte Eltern. Doch die Verunsicherung treibt üble Blüten und lässt das Vertrauen in allen Bereichen schwinden. Das System selbst ist zerrissen in Unsicherheit. Und die Politik springt auf das Pferd auf und formuliert Reformidee nach Reformidee. Die Kultusministerien ändern fast halbjährlich die Rahmenpläne. Doch an die Universalwaffe Reform glaubt niemand mehr. So entsteht der Eindruck: Deutschland verblödet. Es verblödet mit den Gleichgültigen und es verblödet mit den Engagierten. Eine Allensbach-Umfrage ergab, dass 70 Prozent der Befragten in ganz großer Sorge sind um die Chancen der SchülerInnen auf dem Arbeitsmarkt. Die Folge: Verwirrung auf der ganzen Linie, was das System betrifft, Termin- und Finanzdruck im Alltagsleben und absolutes Unvertrauen in die natürlichen Entwicklungsmechanismen unserer Kinder.

Der Mangel im staatlichen System wird zum Privatproblem umformuliert. Eine Verschiebung der Verantwortung wird durch Medienpositionen unterstützt. Zeitdruck, Leistungsdruck und das beständig zunehmende Raunen, mehr leisten zu müssen, um unter eventuellen Folgen, wie Arbeitslosigkeit, in Zukunft nicht zu leiden, verunsichert.

Eine Rundumdokumentation aller Bildungs- und Lernschritte geistert durch die Lernzeit als diverse Portfolio-Sammlung, mit deren Hilfe prospektive ArbeitgeberInnen genaue Lern- und Entwicklungsprofile geliefert bekommen. Ohne diese Portfolios – so heißt es – wären die Chancen im späteren Leben schlechter. – also alles nur zum Wohle der Kinder. Wir fragen uns aber: Schützen dokumentierte Lernschritte vom ersten bis zum letzten Schuljahr davor, keine bezahlte Arbeit zu finden? Sagen sie tatsächlich etwas über die Lernfähigkeit des einzelnen Kindes und seiner Individualität aus? Oder sind sie nur Instrumente der Macht und Kontrolle, die Panik vor einer unkontrollierbaren Zukunft schüren sollen? Welche Zukunft ist letztendlich vorhersehbar und kontrollierbar, und wer weiß heute schon, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und persönliche Stärken in Zukunft das Leben der Einzelnen stärken und sichern werden? Eine Festlegung auf heute marktwirtschaftlich wünschenswerte Bildungselemente, wie zum Beispiel Fremdsprachen, kann sich in kurzer Zeit als überholt erweisen. Was bleibt dann den scheckheftgepflegten Kindern, die von der Panik ihrer Zeit gebildet wurden und nicht vom gesunden Menschenverstand? Wie sollen sie umlernen, wenn sie eine entscheidende Grundvoraussetzung von Menschen – das neugierige Selbstentdecken – abtrainiert bekommen haben?

Der lückenlose Lebenslauf von der Wiege bis ins Grab lässt keinen Raum für Seitenwege, Missgeschicke oder Kreativität, kurz: für die Entwicklung zum eigenverantwortlichen Menschen. Und darauf können wir uns verlassen, wenn wir darauf vertrauen.

Anja Spangenberg & Gabi Merziger

Anteil der Schülerinnen und Schüler in privaten Gymnasien
an allen Schülerinnen und Schülern in Gymnasien, Schuljahr 2006/2007

Land Anteil
in %
Land Anteil
in %
Baden-Württemberg
Bayern
Berlin
Brandenburg
Bremen
Hamburg
Hessen
Mecklenburg-Vorpommern
9,4
10,2
6,8
6,7
9,3
7,0
10,8
3,8
Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Schleswig-Holstein
Thüringen

Insgesamt

8,8
16,5
13,8
14,0
6,3
7,5
2,0
5,6

10,7

Detaillierte Ergebnisse sind kostenfrei im Publikationsservice des Statistischen Bundesamtes abrufbar (Schnellsuche: »Private Schulen«).

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