Werden Sie auch eine
Strahlend sitzt die junge Frau in volkstümlicher Tracht an ihrer neuen
Nähmaschine. Ein großes, hypermodernes kyrilles "S" für "Singer" ziert
das Werbeplakat und zeigt zugleich, in welchen Spannungen sich das Riesenreich
Russland um die Jahrhundertwende befindet: Einerseits rückständiges
Agrarland mit Bauern, die zwar seit 1861 keine Leibeigenen mehr sind,
aber verarmen, da ihnen nicht genug Land zur Verfügung steht. Auf der
anderen Seite innerhalb kürzester Zeit hochindustrialisiert, vor allem
durch den Bau der transsibirischen Eisenbahn, die erstmals in großem
Stil den Abbau der vielfältigen Bodenschätze ermöglicht.
Kurz vor Ausbruch der Revolution wird Russland die höchste Wirtschaftsblüte
seiner Geschichte erleben. Angesichts unwürdigster Bedingungen für Arbeiter
und Bauern.
Ein anderes Bild: Elena Samokisch-Sutkowskaja porträtiert die Zarin Alexandra Fjodorowna. Anlässlich der 200jahrsfeier von St. Petersburg ist sie in der Pracht jahrhundertealter Gewänder zu sehen. Am Vorabend des russisch-japanischen Krieges und des "Blutsonntags" am 9. Januar 1905, als eine friedliche Demonstration von hunderttausend Arbeitern zum Winterpalast blutig niedergeschossen wird, hält das Zarenpaar ungerührt nach traditionellem Ritus Hof. Von dringend notwendigen Reformen will Nikolaus II. nichts wissen. Ein Polizeistaat ist das Reich des letzten Zaren.
Erst im Oktobermanifest muß der Zar eine Lockerung der Zensur und
die erste Duma dulden.
Erste satitirische Zeitungen können erscheinen, "Schupel" (Schreckgespenst)
zum Beispiel, wo in einer Gloriole statt des Romanow-Adlers ein Esel
zu sehen ist. Der Verfasser und Künstler Iwan Bilibin, der zuvor wunderbare
Märchenillustrationen entworfen hat, wird festgenommen.
Zur gleichen Zeit hält in Russland der Jugendstil als "stil modern"
Einzug, baut der deutschstämmige Architekt Fjodor Schechtel Villen als
Gesamtkunstwerke. Die Villa Deroschinskaja in Moskau, die deutlich Einflüße
eines Mackintosh zeigt.
Nach dem Vorbild der englischen Zeitschrift "The studio" erscheint in
St. Petersburg die "Welt der Kunst" als wichtigste Publikation der Jahrhundertwende.
Herausgeber Diaghilew gründet 1909 die Ballets Russes, Leon Bakst entwirft
die Ausstattung.
Später verpflichtet er auch die Avantgardekünstlerin Natalja Gontscharowa,
die seine Uraufführung "Der goldene Hahn" ausstattet. Mit ihren farbenfrohen,
folkloristischen Entwürfen begründet sie den Neoprimitivismus. Und ist
zugleich eine Künstlerin, die nach dem russischen Stil sucht.
Wie die Künstler von Abramzewo, die ausgehend von bäuerlichen, volkskundlichen
Objekten den sogenannten neorussischen Stil begründen.
Jelena Polenowna, die Leiterin der Tischlerwerkstätten entwirft zahlreiche
Möbel in diesem Stil.
Das Landgut Talaschkino der Fürstin Maria Tenischewa wird ebenfalls
zum Hort dieser Kunstrichtung, zudem werden dort die ersten Matrioschkas
hergestellt. Sie zeigen typische Szenen des bäuerlichen Lebens. Mit
der Uraufführung der futuristischen Oper "Sieg über die Sonne" von Kasimir
Malewitsch im Jahr 1913 gibt es eine Wende im kulturellen Leben. "Herauswerfen
von Puschkin, Dostojewski, Tolstoi vom Dampfer der Moderne" proklamiert
der Künstler und feiert den technischen Fortschritt, die Maschinen,
den Krieg.
Als der erste Weltkrieg dann kommt, wird schnell klar, wie marode die
Politik des Zaren ist.
Dringend nötige Reformen wurden nicht durchgeführt. Nikolaus hält an seiner Autokratie fest, er sieht seine Herrschaft als von Gott gegeben. Unter dem Druck der Bevölkerung wird er am 13.2.1917 zum Abdanken gezwungen, in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1918 wird die gesamte Zarenfamilie im sibirischen Jekaterinburg von Bolschewiken ermordet.
Von der Zarenkrönung 1896 bis zur Oktoberrevolution 1917 reicht der Spannungsbogen dieser höchst interessanten, kulturhistorischen Schau. Und macht neugierig, sich noch intensiver mit den zahlreichen Facetten dieser uns weitgehend unbekannten Epoche zu befassen.
Julia Reichelt
Die Ausstellung
läuft bis 1.2. 2009
Institut
Mathildenhöhe
Olbrichweg 13
64287 Darmstadt