Werden Sie auch eine

MATHILDE

Was geht mich Luise an?

Es gibt mehrere historische Darmstädter Luisen, die jede auf ihre Art besondere Frauen waren und sich für die Rechte der Frauen einsetzten. Sie alle wollten sich nicht mit den traditionellen Rollen zufrieden geben und sind ihren eigenen Weg gegangen. Alle vier Luisen können als Vorbilder fungieren.

Ach, Luise, wie musst du dich beim Hören der Sendung Kalenderblatt des Bayerischen Rundfunks an deinem 185. Geburtstag am 12. Juni 2006 geärgert haben, als eine flotte Journalistin behauptete, du hättest den literarischen Nachlass deines Bruders Georg nicht aus Liebe zu ihm, wie es der jüngere Bruder Ludwig getan habe, sondern vor allem aus "Selbstliebe" gepflegt. Sein Glanz solle auch auf dich fallen, behauptete die Autorin der Sendung munter, da du selbst unbegabt, rückschrittlich und voller Vorurteile gewesen seist. Nun, du hast immer gewusst, dass man ohne Geschichtskenntnisse auch in der Gegenwart nicht weiterkommt. Deshalb hieltest du mehr als zehn Jahre lang Geschichtsvorlesungen für Frauen und Mädchen in deiner Wohnung in der Grafenstraße ab. Viel Zeit und Mühe hast du in die Recherche und die Arbeit dafür gesteckt. Für eine Frau im 19. Jahrhundert übrigens eine ungewöhnliche Tat. Der Autorin der erwähnten Sendung stehen heute unendlich viel mehr Mittel zur Verfügung, sich über historische Ereignisse zu informieren. Hätte sie diese gründlich genutzt, dann wüsste sie, dass Georg Büchner erst nach deinem Tod richtig bekannt wurde. Sie könnte dann auch erfahren haben, dass du als eine der ersten Frauen in Deutschland die gleichwertige Ausbildung von Mädchen und Jungen fordertest, sowie dich für die Reformierung der Mädchenschulen, Einstellung von Lehrerinnen und Zulassung von Frauen zum Medizinstudium eingesetzt hast. In einer Zeit, in der unverheiratete Frauen in der Gesellschaft besonders schlechte Karten hatten, hattest du den Mut, vor den versammelten männlichen Bildungsexperten die Stimme zu Gunsten des weiblichen Teils der Bevölkerung zu erheben und für eine bessere Zukunft der Frauen einzutreten. Das Wissen um dein mutiges Eintreten für die Rechte der Frauen macht es leicht, dich auch heute noch als Vorbild zu nehmen.

Wir aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger des 21. Jahrhunderts lieben allerdings eher Heldinnen und Helden, die auffälligere Taten vollbringen. Häufig sind die Vorbilder deshalb umstürzlerische Revolutionäre, die bereit waren, die Gesellschaft notfalls sogar mit einem Lebensopfer zu verändern. Frauen und Männer, die die bestehende Gesellschaft "nur" Schritt für Schritt verändern wollen und wollten, stehen als Vorbilder nicht so hoch im Kurs. Diese Auffassung benachteiligt vor allem die Frauen, da sie seltener auf die Barrikaden steigen und gestiegen sind, als Männer und noch seltener umstürzlerische Texte veröffentlichten. Sie mussten in der Regel vorerst für das Überleben der Familie kämpfen und konnten "nur" im Kleinen wirken.

Luise Büchner und die anderen Darmstädter L(o)uisen - Ploennies und von Gall - waren keine Revolutionärinnen. Trotzdem eignen sich alle drei als Vorbilder, da sie sich mit der traditionellen Rolle der Frauen ihrer Epoche nicht abfanden und neben ihren "häuslichen Pflichten" Gedichte, Zeitungsartikel, Reportagen und Reiseberichte schrieben und veröffentlichten.

Die vierte Darmstädter Luise, Luise Dittmar, gilt sogar als eine der radikalsten Denkerinnen ihrer Zeit. Ihre philosophischen Schriften gehörten in die Seminare der Universitäten. Leider sind sie immer noch nur wenigen Professorinnen und Professoren bekannt.

Das Interesse für bedeutende Frauen in der Geschichte ist in den letzten Jahren erfreulicherweise gewachsen. In vielen Städten und Regionen werden Frauen entdeckt, die in der Vergangenheit Waisenhäuser und Schulen gründeten, Kranke und Gefangene pflegten, Zeitungen herausgaben und Geschäfte führten. Die Frage, ob sie Vorbilder sind oder nicht, muss jede für sich entscheiden. Auf jeden Fall gaben sich diese Frauen mit der traditionellen Rolle der Tochter oder Ehefrau nicht zufrieden und wollten das Bestehende ändern.
Sie nicht zu vergessen, ist eine unserer Aufgaben.

Agnes Schmidt, Leiterin der Luise-Büchner-Bibliothek

zurück

MATHILDE