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MATHILDE

Meditation am Straßenrand

Den Standort auswählen, übersichtlich für mich, gut zum Halten für das Fahrzeug. Dann gibt es nichts mehr zu tun, als hier und ganz präsent zu sein. Keine Möglichkeit, den Prozess zu beschleunigen. Hingabe ist angesagt. Mit jedem Fahrer und jeder Fahrerin Blickkontakt aufnehmen. Hoffen und wieder loslassen. Gefühle wie Ungeduld, Unruhe, Gelassenheit, Sonne genießen, Zeitlosigkeit und Enttäuschung kommen und gehen.

Trampen ist für mich inzwischen eher zur Meditation geworden, früher war es eine Notwendigkeit. Mit Anfang 20, nach einem guten Einstieg ins WENDO-Training - danke Sanne Hellweg - fing ich an, angstfrei und öfter zu trampen. Zu der Zeit schaffte ich mein Auto ab, entschied mich für die umweltfreundlichere und kostengünstige Alternative, sechs Jahre mit Motorrad, öffentlichen Verkehrsmitteln, geliehenen Autos und Trampen. Seit 13 Jahren habe ich wieder ein Auto und trampe vereinzelt immer noch Kurzstrecken.

Alleine trampe ich am liebsten, fühle ich mich freier, sicherer in meinen Reaktionen und Entscheidungen. Vielleicht weil ich die wenigen Male, die ich mit Freundinnen getrampt bin, angemacht wurde, und ich diese dann noch mitverteidigt habe. Alleine und mit einem Freund bin ich Langstrecken in Deutschland und Österreich, in USA alleine Kurzstrecken getrampt.

Wenn es hell ist, fühle ich mich sicherer. Dunkelheit vermeide ich. Ich nehme auch Tramper/innen mit. Angst habe ich selten, wenn sie kommt, beginne ich zu handeln.

Ganz selten habe ich übergriffige Situationen erlebt. Diese konnte ich immer schon im Ansatz durch Sprache und körperliche Verteidigungen gut für mich entscheiden. Danach war ich aufgeregt, wütend aber auch kraftvoll und belustigt. Von Verteidigungsspray oder anderen Waffen halte ich nicht viel, sie könnten gegen mich verwendet werden. Ich verlasse mich auf meine Sinne: Sprache, Verstand, Wut, körperliche Fitness und auf das Bedürfnis des Fahrers, dass er und sein Fahrzeug unversehrt bleiben sollen (herumliegende Sachen aus dem Autofenster zu werfen motiviert zuverlässig zum Anhalten). Trampen sollte nur, welche sich innerlich stark genug dazu fühlt. Doch rate ich allen Frauen jeden Alters zu WENDO-Kursen, auch wenn sie nicht trampen wollen. Entscheidend sind dabei der frauenspezifische Ansatz zum Beispiel die Rollenspiele, Sprech- und Schreiübungen, die eine Frau stärken. Sie geben uns unserer Recht zurück, unser Leben selbst zu verteidigen und unfreundlich sein zu dürfen.

Ich habe viele Warnungen gehört und kann sie nicht teilen. Die meisten Fahrer/innen sind guter Laune, freundlich, gesprächig und interessiert, was bei mir gute Laune hinterlässt. Als Frau werde ich deutlich schneller mitgenommen. Oft sagten Fahrer und Fahrerinnen, sie hätten vor einer Frau weniger oder keine Angst. Mich mitgenommen hätten sie, weil ich so freundlich aussehen würde. Dieses Kompliment hole ich mir immer wieder gerne ab, als Abschluss meiner Straßenrandmeditation.

Helma Eller

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