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Die Lust am Nichtstun

Vom Wert der Faulheit

Faulsein will gelernt sein - das jedenfalls behaupten diejenigen, die das süße Nichtstun als neue Wellnessnische entdeckt haben und von diversen Anleitungen zum Müßiggang bis hin zur »Entdeckung der Faulheit« von der französischen Politologin Corinne Maier reichen. Ist es nicht seltsam, das Nichtstun als anspruchsvolle Aufgabe zu propagieren?

In der Antike galt die Muße noch als erstrebenswertes Ideal, doch mit dem Christentum wurde sie geächtet, sie gehörte zu den sieben Hauptlastern. Faul herumzuliegen wurde nicht als sinnvolle Erholungsphase oder als produktives Nichtstun angesehen, sondern es war verbunden mit Trägheit des Herzens, Trübung des Willens, Verfinsterung des Gemüts und Verlust der Tatkraft. In dieser Tradition sind wir erzogen und Sprichwörter aus dem Volksmund, wie »Müßiggang ist aller Laster Anfang«, oder der Benediktinergrundsatz »Ora et labora« (bete und arbeite) zeugen noch davon. Schuften, ohne zu genießen, ein fleißiges Leben in Bescheidenheit war für die Puritaner der Weg in den Himmel, in der Arbeitsethik war lange Zeit das Recht auf Arbeit erste Forderung für das im Vordergrund der Lebenserfüllung stehende Ziel des wirtschaftlichen Erfolges. Manche Philosophen sahen das differenzierter. So sah Kant durchaus die Schutzfunktion von Faulheit - in Maßen natürlich.

Diese Meinungen dominierten viele Jahrhunderte in Zeiten, in denen die Menschen sehr viel mehr arbeiten mussten als heute. Deshalb mutet es zunächst paradox an, dass in unserer modernen Zeit, in der die Menschen über so viel freie Zeit verfügen, wie nie zuvor, das Verlangen nach einem Leben ohne ständigen Blick auf Uhr und Kalender anwächst. Ein kurzer Blick auf die Statistik zeigt, dass die meisten westdeutschen Menschen um 1950 noch an sechs Tagen in der Woche arbeiteten, das 48 Stunden lang und bei nur 15 Tagen Urlaub im Jahr. Heute hat die Freizeit die Arbeitszeit längst stundenmäßig überholt. Laut Freizeitforscher Horst W. Opaschowski stehen 2043 Arbeitsstunden pro Jahr 2100 Stunden freie Zeit gegenüber. Und doch ist die Zeit fürs süße Nichtstun lediglich nur durchschnittlich 19 Minuten am Tag. Das ergab die Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes aus den Jahren 2001/02. Die Gesellschaft sei sogar dabei, den Sonntag abzuschaffen, stellt der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler fest.

Der pausenlose Einsatz neu entstandener Arbeitsformen von Internetrecherchen über diverse Veranstaltungen bis hin zu den unterschiedlichsten Formen der Freizeitgestaltung, die alle irgendwie mit Aktivität zu tun haben, scheint die Menschen nicht wirklich zu entspannen. Sie haben keine Zeit faul zu sein. Warum setzen die Menschen sich auch in ihrem Freizeitverhalten immer mehr unter Druck? Und das, obwohl die Sehnsucht zur Ruhe zu kommen zunimmt?

Die Frage ist anders zu stellen: Was strengt an und was dient der Erholung? Wo und wie finden wir die gesunde Balance zwischen Anspannung und Entspannung? Das scheinen die meisten von uns absolut verlernt zu haben.

Meine Kinder haben das Chillen für sich entdeckt - sie chillen nach und sogar in der Schule, gehn die Dinge gechillt an und bei jedem erzieherischen Wort sagt mein 16jähriger Sohn: »Mutter, du musst die Welt gechillter sehen!« Chillen gleich abhängen. Chillen gleich faul sei. Doch beantwortet das die Frage nach der Balance?

Ich werfe einen Blick auf meine Großmutter - immer fröhlich, immer zufrieden. Egal, ob sie verschwitzt von der Gartenarbeit zurück ins Haus kommt, ob sie singend am Herd steht oder gemütlich im Sessel ihren Kaffee trinkt. Sie ist zufrieden. Sie scheint das Geheimnis für sich gelüftet zu haben. Nie spricht sie davon, keine Zeit zu haben, nie jammert sie über Langeweile, nie beschwert sie sich, dass etwas zu mühsam sei. Im Gegenteil. Sie spricht von allen Dingen, die sie tut, liebevoll. Jeder Schritt in ihrem Leben scheint mit Genuss verbunden. Sie tue die Dinge mal langsam, mal schnell, so, wie es ihr gerade drum sei, sagt sie. Tja, und damit scheint sie genau diese Balance, die uns die neuen Wellnessbücher propagieren, gefunden zu haben. Innendrin. Automatisch. Entspannung bedeutet für sie nicht Nichtstun und Müßiggang ist für sie keine Last. »Entspannung durch Selbstvergessenheit« nennen es die Psychologen, »Pausenmangement« die Experten aus der Wirtschaft. Doch die haben mit ihren Erläuterungen alle das Ziel, die Menschen zu bessern und wirtschaftlicher zu machen. Meine Oma hat einfach ein glückliches und zufriedenes Leben - fleißig und faul zugleich. Gechillt eben.

Gabriele Merziger

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