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Der lange Weg zum Studium für Frauen in Deutschland

"Nur immer voraus, ihr jugendlichen Streberinnen auf den höheren Gebieten des Wissens"

Eine Reise in die Geschichte

Die 27jährige Arzttochter Dorothea Leporin (1715-1762) veröffentlichte 1742 eine Abhandlung mit dem Titel: Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studieren abhalten. Mit spitzen Federn aber nicht ohne Humor zählte die Autorin dieser kleinen Schrift die gängigen Vorurteile ihrer Zeit gegen das Frauenstudium auf und führte die unsinnigen Behauptungen über die Schwäche des weiblichen Verstandes Schritt für Schritt ad absurdum. Trotz der Schärfe der Argumentation traf das Büchlein überwiegend auf Zustimmung, blieb jedoch ohne nennenswerte Wirkung.

Nach ihrer Heirat mit dem Diakon Erxleben und der Geburt von vier Kindern meldete sich Dorothea 1754 an der Universität Halle zur Promotion an. Mit Sondergenehmigung des preußischen Königs wurde sie zur Prüfung zugelassen, die sie erfolgreich ablegte. Anschließend praktizierte sie bis zu ihrem frühen Tod als beliebte Ärztin in ihrer Heimatstadt Quedlinburg.

Dorothea Erxlebens Beispiel fand vorerst nur wenig Nachahmung. Es gab zwar in der Folgezeit immer wieder Frauen, die mit Sondergenehmigungen Vorlesungen an einer deutschen Universität besuchen durften, zum Abschluss ihrer Studien kamen sie aus verschiedenen Gründen nicht. Eine rühmliche Ausnahme ist die in Darmstadt in einer Arztfamilie aufgewachsene Charlotte Heidenreich von Siebold (1788-1859). Sie studierte in Göttingen und promovierte 1817 an der Gießener Universität. Zwei Jahre zuvor erhielt dort bereits ihre Mutter, Regina Josefa von Siebold für ihre Verdienste in der Frauenheilkunde und der Hebammenausbildung die Ehrendoktorwürde.

Trotz der Einzelbeispiele studierender Frauen verstärkten sich in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Vorurteile gegen das Frauenstudium. Das vorherrschende Biedermeier-Ideal des bürgerlichen Familienlebens wies der Frau das Haus als alleinigen Wirkungskreis zu. Dort sollte sie als Hausfrau und Mutter für das »häusliche Glück« sorgen. Unverheiratete Frauen waren in diesem System nicht vorgesehen. Fand die Tochter der Familie keinen Ehepartner, versorgte sie die alternden Eltern bis zu deren Tod. Anschließend lebte sie in der Regel bei den Familien der Geschwister, oft mehr geduldet als geliebt. Erst als sich infolge von Wirtschaftskrisen Mitte des 19. Jahrhunderts die finanzielle Grundlage von vielen bürgerlichen Familien verschlechterte und der Unterhalt der »unversorgten Töchter und Schwestern« das Familienbudget zunehmend belastete, wurden Stimmen für höhere Mädchenschulen laut, die die Töchter auch für eine spätere, ihrem Stand gemäße Erwerbsarbeit vorbereiten sollten.

Eine der ersten Frauen, die konkrete Vorschläge für bessere Mädchenschulen, Berufsschulen und die Einführung von Lehrerinnenseminaren machte, war die Darmstädterin Luise Büchner (1821-1877). In ihrem 1855 noch anonym erschienenen Buch »Die Frauen und ihr Beruf« kritisierte sie die von Pfarrern geleiteten Mädchenschulen ihrer Zeit und forderte die Ausbildung qualifizierter Lehrerinnen. Sie schlug Schulen für Mädchen bis zum 18. Lebensjahr vor, wo außer Literatur, Geschichte und Sprachen auch Naturwissenschaften und praktische Fächer wie zum Beispiel Handarbeit unterrichtet werden sollten. Die so ausgebildeten jungen Frauen würden nach ihrer Meinung ihre zukünftigen Aufgaben sowohl im Haus als auch in einem Beruf besser bewältigen können. Diejenigen von ihnen, die unverheiratet blieben, hätten mit der gründlichen Ausbildung die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt mit qualifizierter Erwerbsarbeit zu sichern.

Einige dieser Ideen setzte Luise Büchner mit Hilfe der Prinzessin Alice von Hessen-Darmstadt in die Praxis um. Die beiden Frauen gründeten mehrere Frauenvereine, die Schulen für die Ausbildung zu Krankenschwestern und Handarbeits- und Zeichenlehrerinnen einrichteten. Später kamen weitere Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen dazu: Kurse für Kopistinnen, Buchhalterinnen und Kindergärtnerinnen.

Ungleich schwerer war es in Deutschland, die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium zu erkämpfen. Zwei Jahre vor ihrem Tod besuchte Luise Büchner die Züricher Universität, wo Frauen seit 1864 zum Studium zugelassen waren. Nach ihrer Rückkehr berichtete sie in mehreren deutschen Zeitungen über ihre Begegnungen mit Studentinnen der Medizin, Mathematik und Chemie und forderte die deutschen Behörden auf, dem Beispiel der Schweiz und anderer europäischer Länder zu folgen. Sie war trotz ablehnender Haltung der meisten Professoren überzeugt, dass bald auch an deutschen Universitäten Frauen studieren werden. »Also, nur immer voran, ihr jugendlichen Streberinnen auf den höheren Gebieten des Wissens!« rief sie den jungen Frauen zu und optimistisch fügte sie hinzu: »Jetzt sind es nur noch Wenige, in zehn Jahren werden sie nach Hunderten zählen.«

Nun es hat länger als zehn Jahre gedauert bis Frauen in Deutschland in größerer Zahl studieren konnten!

In den 1890er Jahren mussten vorerst die Voraussetzungen zum Hochschulstudium der Frauen geschaffen werden. Helene Lange (1848-1930) richtete in Berlin 1898 die ersten »Realkurse für Frauen« ein, die sie 1893 in vierjährige Gymnasialkurse umwandelte. Die ersten Absolventinnen dieser Kurse legten 1896 die Reifeprüfung extern ab und schafften damit den Hochschulzugang. Nach der Gründung des ersten Mädchengymnasiums durch Hedwig Kettler in Karlsruhe entstanden ähnliche Institutionen auch in anderen deutschen Städten, wie zum Beispiel in Leipzig, Frankfurt oder Hamburg. Die Zahl der Abiturientinnen wuchs und damit auch der Druck auf die Behörden, Frauen mit Hochschulreife den Zugang zu Universitäten zu genehmigen.

Die süddeutschen Länder waren die Er-sten, die diesem Druck nachgaben. Die Universitäten in Freiburg und Heidelberg ließen bereits 1900 die ersten Studentinnen zu, die württembergischen und bayerischen Universitäten folgten 1903. Schlusslicht bei der Zulassung der Frauen zu ihren Universitäten und Hochschulen waren Hessen, Preußen und Mecklenburg.

Die großherzogliche Regierung von Hessen-Darmstadt genehmigte durch einen »Ministerial-Beschluß« vom 29. Mai 1908 die Immatrikulation von Frauen an den Hochschulen des Landes. In diesem Erlass wurde auch das Recht der Frauen zur Promotion eingeräumt. Allerdings waren vorerst nicht alle akademische Berufe für Frauen zugänglich. Das Studium für höheres Lehramt, der Wunschberuf vieler Studentinnen wurde erst ab 1915 möglich. Jetzt erst war der Weg zu den zwei wichtigen und bei Studentinnen bevorzugten akademischen Berufen frei: dem der Ärztin und dem der Lehrerin an höheren Schulen.

Die Zahl der ersten Studentinnen war im Großherzogtum Hessen-Darmstadt sowohl an der Universität Gießen als auch an der Technischen Hochschule Darmstadt gering. In Gießen haben sich im Wintersemester 1908/09 gerade mal 23 Studentinnen eingeschrieben, in Darmstadt nur eine. Die ersten Gießener Studentinnen kamen alle aus Russland, wo Mädchengymnasien seit vielen Jahren die Hochschulreife ermöglichten. Die Zahl der Studentinnen erhöhte sich erst 1911, als durch die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens Studienanstalten für Mädchen geschaffen wurden, die unmittelbar zur Hochschulreife führten. Solche Studienanstalten bestanden auch in Darmstadt und Mainz.

Die erste Darmstädter Studentin, Franziska Braun legte ihre Abiturprüfung 1906 an einem Frankfurter Gymnasium ab. Sie studierte bis zum Herbst 1912 an der Technischen Hochschule Architektur. Ihr Eintritt in die akademische Welt wurde von der Redaktion der Darmstädter Studentischen Nachrichten mit folgenden Worten begrüßt:

»Heute ist die erste ordentliche Studierende in die hiesige Technische Hochschule aufgenommen worden und zwar in die Architektur-Abteilung auf Grund des Reife-Zeugnisses eines preußischen Real-Gymnasiums. Wir heißen unsere erste Kommilitonin willkommen und wünschen ihr den besten Erfolg, der ihr als Architektur-Studentin gerade an unserer Hochschule sicherlich beschieden wird. Wir wünschen, dass unserer ersten Kommilitonin recht bald noch recht viele nachfolgen mögen, damit jene mittelalterliche Anschauung von der Inferiorität des Weibes endlich zerstört wird. Die Immatrikulation unserer ersten Kommilitonin ist nicht nur ein Höflichkeitsakt gegen das schöne Geschlecht. Sie bedeutet den Beginn einer neuen Ära: der Eroberung der Technik durch die Frau.«

Eine Begrüßung, die heute noch schmeichelhaft in unseren Ohren klingt. Die Eroberung der Technik durch die Frau dauert allerdings noch an. In den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen der Universitäten sind Frauen auch heute noch deutlich unterrepräsentiert. Durch verstärkte Förderung ist jedoch auch hier eine positive Entwicklung zu erwarten.

Agnes Schmidt

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