Werden Sie auch eine

MATHILDE

Der tiefe Wunsch nach Heilung

"Entscheidend ist für uns Frauen, den Machtbegriff neu zu definieren. Ich spreche in diesem Zusammenhang von weiblicher Urkraft und weiblicher Schöpfungsmacht."

 

Interview und Rezension zum neuen Buch von Gertrude R. Croissier

Warum hast du für das Titelbild die »Schlafende Zigeunerin« von Henri Rousseau ausgewählt?

Dieses Bild begleitet mich schon seit meiner Jugend. Es beinhaltet mein Lebensthema »Friede mit der Natur«. Eine Frau liegt imMittelpunkt, in tiefer Hingabe, Vertrauen und Einheit mit den Wesen. Sie liegt auf Mutter Erde, im Hintergrund fließt Wasser. Rechts neben ihr steht ein Krug - Gefäß des Lebens. Im Kontakt mit ihr ist ein Tier, eine Mischung von Schaf und Löwe, Friedfertigkeit und gleichzeitige Ur-Kraft symbolisierend. Über allem steht die Kraft der Mondin. Nicht die zivilisierte, sondern die wilde, weibliche Kraft ist in diesem Bild enthalten.

Wie ist dein Bezug zu Christa Mulack, die einen Kommentar zu deinem Buch geschrieben hat?

Sie ist eine der bekanntesten feministischen Theologinnen, eine Autorität in Sachen weibliches Gottesbild. Ich betrachte ihren Kommentar als eine große Wertschätzung meiner Arbeit. Ihr wichtigstes Buch für mich war »Die Wurzeln weiblicher Macht«. Ich bin aufgewachsen als Tochter eines Theologen, in der Zwangsjacke der protestantisch, patriarchalen Theologie, und empfand das Buch als eine Art Offenbarung. Es gab mir die Erlaubnis zum Umdenken, die Vorstellung des väterlichen Gottesbildes zu hinterfragen und neu zu definieren. Entscheidend ist es für uns Frauen den Machtbegriff neu zu definieren. Frauen haben oft Angst von Macht zu sprechen. Ich spreche von weiblicher Urkraft und weiblicher Schöpfungsmacht.

Durch welche Prozesse bist du während des Schreibens gegangen? War es auch ein Heilprozess für dich selbst? Gab es Heilkrisen?

Oh ja und wie! Das eigentliche Motiv, das Buch zu schreiben war mein eigenes seelisches Unheil und der sehr tiefe Wunsch nach eigener Heilung. Die fünf Jahre Arbeit an dem Buch haben meinen Heilprozess als Frau sehr gefördert. Das Schreiben von zwei Büchern ging diesem voraus. Das Erste war noch sehr geprägt von männlichen Leitbildern, das Zweite war sehr emotional, der eigene Heilungsweg stand sehr im Mittelpunkt. Ich habe sie wieder gelöscht. Jetzt ist es eine Mischung aus Fühlen und Denken, Intuition und Verstand entstanden. An dem nun erschienenen Buch habe ich drei Jahre gearbeitet, das letzte davon waren Korrektur und Formarbeit im Kontakt mit dem Verlag.

Die größte, massivste Heilkrise hatte ich beim dem Kapitel Inquisition. Ich habe mir das Lesen des Hexenhammers zugemutet. Beim Lesen und Forschen war ich in einer mehrwöchigen Krise. Ein weiterer Punkt war die Angst vor Entwertung und »Verfolgung«, wenn ich mit diesen Themen und radikalen Aussagen so in die Öffentlichkeit gehen würde. Es dennoch zu wagen war mein größter Heilungserfolg. Ich habe keine Angst mehr vor öffentlicher Entwertung, Beschämung und bin mehr in meiner weiblichen Macht.

Du benutzt eine sehr weiche, integrierende, bewusste Sprache und bringst sie in weiblichen Kontext z. B. »Thealogie«, »bis in die dritte Vulva«, »Vertöchterung«. Was bedeutet Sprache für dich und deine Arbeit?

Ganz entscheidend! Sprache kommt aus Bewusstsein und aus ihr entwickelt sich Bewusstsein. Sie ist bewusstseinstragend. Mit ihr wird patriarchales Bewusstsein weitergegeben. Wir können mit Sprache Weibliches Bewusstsein erschaffen und weitergeben. Wir sagen zwar Muttersprache, aber wir haben hier eine Sprache die ist patriarchal, funktional, rational, kalt und zerstörerisch. Sie ist voller kriegerischer Begriffe aus zwei Weltkriegen. Oder aber sie ist sentimental und gefühlsduselig aber selten gefühlvoll. Eine weibliche Sprache trägt die Ausdruckskraft und Tiefe, Emotionalität, Bildhaftigkeit, Farbigkeit wie wir sie aus vorpatriarchalen Texten, Gebeten und Anrufungen kennen.

Wie verstehst du lesbische Beziehungen? Wieso kommt dieser Aspekt in deinem Buch nicht vor?

Ich schreibe bewusst nicht darüber, denn mit Frauenliebesbeziehungen habe ich keine Erfahrung. Ich schreibe in meinem Buch nur über das, was ich selbst erfahren oder erfühlt habe. Einmal war ich heftig verliebt in eine Frau, aber sie lebte in einer festen Bindung. Ich würde auch eine Frauenbeziehung leben, wenn das Leben mich dazu einladen würde und sie auch öffentlich machen. Ich begleite lesbische Frauen und Frauenpaare, auch mit schwulen Männern habe ich gearbeitet.

Was sind deine weiteren beruflichen Pläne als Therapeutin und Autorin?

Spannend, das beschäftigt mich sehr. Ich möchte noch zwei Bücher schreiben. Das Nächste ist schon in Vorbereitung und heißt »Chiron der verletzte Heiler, die verletzte Heilerin«. Hier geht es um die Wunde der inneren Heilerin/ des inneren Heilers und um die Integration archaischer Heilkulte und Heilmethoden in die moderne wissenschaftliche Psychotherapie.

Dieses Buch wird sich an Frauen und Männer richten. Das dritte Buch, als letzte Herausforderung des Schreibens, wird sich mit der schmerzlichen Polarisierung von weiblich und männlich auf der Erde beschäftigen. Es wird »Frauenmysterien/Männermysterien« heißen und behandelt spezifisch weibliche und männliche Initiationen und Einweihungen sowie ihre Bedeutung für heilsame und kraftvolle Weiblichkeit und Männlichkeit heute.

Für die therapeutische Arbeit sehe ich so etwas wie die Entwicklung eines »Forums« für »Weibliches Bewusstsein und Heilung«. Ich möchte es Diotima widmen. Sie war eine reale, historische Gestalt, Priesterin von Mantinea in Arkadien, Heilerin, berühmte Philosophin und Lehrerin von Sokrates.

weiter zur Buchbesprechung

Das Interview führte Helma Eller

zurück

MATHILDE