Werden Sie auch eine

MATHILDE

Einmal Disco und schon Schlampe

In Mainz wird Straßenarbeit mit speziellen Programmen für Mädchen angeboten

Zwei Mädchen reißen einem dritten die Haare aus. Die Schule zeigt sie an, das Gericht verurteilt die Angreiferin zu fünfzehn Stunden gemeinnütziger Arbeit, die Mitmacherin zu neun Stunden.

»So wirklich gerecht finde ich das Urteil nicht«, sagt Doreen Becker, Streetworkerin in Mainz. »Schließlich muss man sich fragen, ob die erste aggressive Handlung die schlimmere ist oder das Nachschlagen und einfach Mitmachen aus Spaß an der Gewalt.«

Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen gehört zum Alltag der Diplompädagogin, die - seit das Jugendamt in Mainz vor zehn Jahren eine Stelle dafür schuf - als Streetworkerin mit auffällig gewaltbereiten Jugendlichen arbeitet. »Ich habe vorher im Jugendzentrum gearbeitet, die neue Stelle war eine Herausforderung für mich«, berichtet die 46jährige. »Eine Herausforderung, auch meine eigene Grenze zu überwinden, jetzt aktiv auf die Jugendlichen zuzugehen, die vorher ins Jugendhaus kamen.«

Es sind meist Jungs, die sich draußen teffen, meist reine Jungencliquen oft muslimischer Herkunft mit denen Becker und ihre KollegInnen umgehen. Jungs zwischen 14 und 20 Jahren, die ihren Freundinnen und Schwestern verbieten, draußen zu sein.

Die Mädchen sind schwerer zu erreichen. Sie treffen sich eher zu Hause oder in der Moschee, Probleme haben sie jedoch genau so, wie die Jungs. »Um die Mädchen zu erreichen, haben wir unterschiedliche Programme entwickelt«, sagt Doreen Becker. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Sportangebote - offene und solche, die mit den Mädchen abgestimmt werden. »Als wir festgestellt haben, dass die offenen Angebote fast ausschließlich von den Jungs genutzt werden - Mädchen kommen höchstens als zuschauende Freundin mit, die dem ’starken‘ Freund beim Basketball oder ähnlichem zujubelt - , haben wir uns überlegt, wie wir die Mädchen anders erreichen können und im Zuge dessen diese speziellen Mädchenprogramme entwickelt.«

Der Sport dient als Anreiz für die thematische Arbeit, die dahinter geschieht. Die Mädchen haben so erstens nicht das Gefühl, zum Probleme besprechen einberufen zu werden und zweitens akzeptieren auch streng moslemische Eltern ein solches festes Programm. »Und wir bekommen die Möglichkeit zu unterstützen.« Neben diesen Sportaktivitäten werden weitergehende Programme mit den Kindern abgesprochen. »Selbst Spaziergänge in der näheren Umgebung gehören dazu, weil diese Mädchen nicht mal den Wald um die Ecke kennen«, sagt Becker. Gruppen gibt es für Mädchen bis zwölf und ab zwölf Jahren. »Doch ab etwa 15 kommen sie gar nicht mehr.«

Entweder sie passen sich den strengen Familiengepflogenheiten an oder brechen aus. »Frühe Schwangerschaften kommen nicht selten vor, weil durch eine solche Schwangerschaft eine Hintertür geöffnet wird, zu Hause rauszukommen und mit Hilfe des Jugendamts in eine eigene Wohnung zu ziehen.« Schwangerschaft als Befeiungsmethode, das ist doch ziemlich brutal? »Ja, ist es. Aber das wird tatsächlich unter der Hand als Tipp oder Trick weitergegeben, eine eigene Wohnung zu bekommen, das Elternhaus verlassen zu können.«

Mädchen kommen innerhalb der Jugend-cliquen sehr schnell in Verruf, vor allem in den Jungscliquen. Ein eigenständiger Moralkodex hält sich. »In die Disco gehen heißt: Schlampe werden. Einmal dort gewesen zu sein, reicht aus, diesen Ruf zu erlangen.« Das allerdings betrifft vor allem Mädchen, bei denen die Eltern sich gar nicht kümmern. Durch die Arbeit der PädagogInnen wird ihnen die Möglichkeit geboten, Halt zu finden. Mädchen aus strengen Elternhäusern haben eher das Problem, überhaupt raus zu dürfen. Da sind die reinen Mädchenangebote ein Befreiungsschlag. Allen diesen Mädchen, mit denen Doreen Becker arbeitet, gemeinsam aber ist, dass sie dringend Anerkennung brauchen. »Wir organisieren Events, wie zum Beispiel den Cheerleaderwettbewerb in diesem Jahr, bei dem die Gruppen sich mit anderen messen können.« Das ist sehr wichtig, denn dadurch wird Selbstbewusstsein gestärkt. Die PädagogInnen zeigen Interesse, unterstützen, alles Dinge, die die Mädchen zu Hause nicht erfahren. »Die Eltern kommen nicht mal zum Zuschauen.«

Aggression ist bei der Arbeit auf der Straße immer ein Thema. »Die Mädchen beleidigen, reizen, kratzen und gehen aufeinander los. Die haben eine ganze Menge Potential, das zwar subtiler ist, als bei den Jungs, aber nicht minder aggressiv. Was wir neu erleben, ist, dass sich Mädchen auch mit Jungs schlagen. Das war vor ein paar Jahren anders, es gab das Tabu: Jungs schlagen keine Mädchen. Das ist jetzt gebrochen.«

Gibt es noch weitere Unterschiede, die du beobachtet hast, frage ich. »Ja. Mädchen solidarisieren sich stärker untereinander. Bekommt beispielsweise ein Junge Hausverbot, dann geht er. Bekommt ein Mädchen die gleiche Strafe, gehen mindestens drei weitere mit ihr. Das ist sehr viel anstrengender. Auch untereinander machen sie sich das Leben schwerer. Während Jungs einfach ihre Auseinandersetzung haben, stellen Mädchen, die sich fetzen sehr schnell die Freundschaftsfrage. Das ist psychologisch gesehen sehr viel drastischer.«

Gabriele Merziger

zurück

MATHILDE