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»Um die sprachliche Repräsentation von Frauen durchzusetzen«

Über die Fortschritte für Frauen in der venezolanischen Verfassung

Viki Ferrara ist pensionierte Literaturwissenschaftlerin und Leiterin der "Feministischen Mediathek" in Merida, Venezuela. In einem Interview erzählt sie von ihrem Interesse für geschlechtergerechte Sprache, ihrer Beteiligung an deren Durchsetzung in der chauvinistischen Verfassung und anderen Fortschritten aus Frauenperspektive.

Wann hast du begonnen dich für Sprache zu interessieren? Und warum?

Ich habe 1999 angefangen, mich mit geschlechtergerechter Sprache auseinander zu setzen. Unsere Sprache ist nämlich ausgesprochen machistisch, was wir Feministinnen natürlich kritisieren müssen. Frauen werden durch die Sprache und grammatikalische Normen geradezu ausgeschlossen. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Nutzung der männlichen Formen, wenn eigentlich von Frauen und Männern gesprochen wird. Meiner Meinung nach ist das eine Form von "grammatikalischer Gewalt", die gegen uns Frauen ausgeübt wird, indem mann uns nicht erwähnt. Sprache ist weder unschuldig, noch neutral. Sie übermittelt Ideologien, interpretiert, reproduziert kulturelle Werte, verstärkt die herrschenden gesellschaftlichen Normen und bestimmt unsere Sicht auf die Realität. Sie garantiert die patriarchale Ordnung und verhindert, dass wir wahrgenommen werden.

Die neue bolivarianische Verfassung von 1999 ist in geschlechtergerechter Sprache geschrieben. Wie warst du an ihrem Entstehungsprozess beteiligt?

Es gab im Vorfeld ein Treffen von einigen Kommissionen der verfassungsgebenden Versammlung mit der Zivilgesellschaft. Da der ganze Prozess sehr partizipativ war, konnte ich auch ohne Anmeldung teilnehmen. Ich wurde dann als Vertreterin des Nationalen Frauenrat CONAMU in die Stilkommission berufen, um die sprachliche Repräsentation von Frauen im Verfassungstext durchzusetzen. Später wurde ich auch zur Vizepräsidentin dieser Kommission ernannt. Wir mussten viel Spott und private wie öffentliche Diskreditierung ertragen. Trotz des Drucks, dem wir von allen Seiten ausgesetzt waren, sind wir nicht von der geschlechtergerechten Sprache abgerückt. Alleine unter so vielen Männern habe ich viele Kämpfe gefochten und nicht alle gewonnen. So stehen z.B. immer noch die Männer an erster Stelle, wenn beide Geschlechter genannt werden. Es ist mir auch nicht gelungen, bei Aufzählungen weibliche Formen durchzusetzen und so heißt jetzt u.a. "Männer und Frauen, Wähler". Die Wählerinnen wurden mal wieder ausgespart. Durch die Erwähnung beider Formen, also der weiblichen und der männlichen, wird der Text länger Dies stößt auf Unbehagen, wenn nicht wirklich die Überzeugung da ist, dass eine solche Vorgangsweise notwendig und nützlich ist. Ich sehe darin aber trotzdem den ersten Schritt zur Änderung des Bewusstseins. Auch die JuristInnensprache kann eine ganz konkrete Funktion erfüllen, indem sie mit den traditionellen Maßstäben bricht und uns zu ProtagonistInnen des sozialen Wandels historisch sichtbar macht.

Ein Verfassungstext schafft aber noch keine gesellschaftliche Realität. Glaubst du, dass diese Schritte auch gesellschaftliche Konsequenzen haben?

Ja, obwohl auf uns noch viel Arbeit wartet. Wir haben eine revolutionäre Verfassung erreicht. Jetzt können wir nicht zulassen, dass sich die Gesetze, die aus ihr hervorgehen, in anonyme und unwichtige light-Gesetze auflösen. Aus Frauenperspektive erscheint mir eine geschlossene Frauenbewegung wichtig und die Bereitschaft, die Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen und sich mit Vorurteilen, Tabus und falschen Privilegien anzulegen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bildung. Frauen und Männer müssen diese Verfassung und die Gesetze kennen und bereit sein, ihre Rechte einzufordern. Aber auch Kinder, und so habe ich beispielsweise eine solche Vision von SchülerInnen, die die Verfassung lesen. Die Mädchen werden dann rufen: "Ich werde Präsidentin!" Und die Jungen werden fragen: "Auch Mädchen können Präsident werden?" Und sie werden es akzeptieren und es wird normal werden - eines Tages.

Welche anderen feministischen Anliegen konnten in der Verfassung durchgesetzt werden?

Der Anhang über Religionsfreiheit ist ratifiziert worden, was verhindert, dass sich Glaubensgemeinschaften in unsere Rechte einmischen können. Im Artikel 75 heißt es "die Familien", im Plural, was eine gewisse Offenheit zulässt. Außerdem ist vom "Raum für persönliche Entwicklung" die Rede, der Gleichheit an Rechten und Pflichten bedeutet. Im Artikel 76 heißt es, dass jedes Paar frei über Nachkommenschaft entscheiden kann. Der Vater und die Vaterschaft werden eingeschlossen, nicht mehr nur die Mutterschaft. Diese wird im Allgemeinen, d.h. nicht immer, ab dem Moment der Befruchtung geschützt. Mutterschaft ist etwas Abstrakteres als Embryo oder Fötus. Das öffnet vielleicht die Türen hin zu einer progressiveren Gesetzgebung hinsichtlich Abtreibung, die in Venezuela verboten ist. Ein ganz großer Schritt ist auch der Artikel 88. Er erkennt Hausfrauenarbeit als Tätigkeit an, die zum Bruttosozialprodukt beiträgt. Diese Frauen haben jetzt das Recht auf Sozialversicherung und Pension. Das bedeutet eine Bruch mit der Trennung von dem Öffentlichen (Politischen) und dem Privaten (Haushalt), die seit den 60er Jahren im Zentrum der feministischen Kritik steht.

Wie sah das in der vorherigen Verfassung aus?

Wenn ich mich recht erinnere, wurden wir Frauen in der vorherigen Verfassung genau dreimal erwähnt. Einmal in dem Absatz, der es uns verunmöglichte, unserem ausländischen Ehemann die venezolanische Staatsbürgerschaft zu übertragen. Das zweite Mal, um uns mitzuteilen (ohne uns dabei direkt zu erwähnen), dass das Leben einer befruchteten Eizelle, (denn es schützte "das Kind" ab dem Moment der Befruchtung) mehr wert sei als unser Recht auf Leben. Und das dritte mal, als es um Angestelltenverhältnisse ging und sie uns mit Minderjährigen verglich. Während Männer mit der Volljährigkeit mündig wurden, blieben wir Frauen, laut dieser Verfassung, unser ganzes Leben unmündig. In diesem Kontext lässt sich verstehen, dass die jetzige Verfassung mit ihrem Gender-Fokus eine durchwegs progressive (wenn auch noch längst nicht völlig gerechte) Sprache aufweist.

Das Interview führten und übersetzten Eva Bahl und Judith Goetz

Eva Bahl studiert Anthropologie und Politikwissenschaft,
Judith Goetz studiert Vergleichende Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft.
Beide befinden sich derzeit auf ein Auslandsjahr in Buenos Aires, Argentinien, und forschen zu Frauenbewegungen in Lateinamerika.

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