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Lucia Schnellbacher spielt auch die Musik vergessener Komponistinnen

Foto: privat

30 Jahre Organistin in der Martinskirche

Ein Bericht über eine bemerkenswerte orgelspielende Frau

Ihr Arbeitsplatz befindet sich in luftiger Höhe. Auf der Empore der Darmstädter Martinskirche wirkt Lucia Schnellbacher seit über drei Jahrzehnten als Organistin und bringt regelmäßig jeden Sonntagmorgen und auch bei Konzerten die Orgel mit machtvollen und zarten Tönen zum Klingen. Ihr Weg zur Musik führte auf Umwegen zum Ziel. Immer hat sie jedoch die Chancen genutzt, die sich boten. In der zweiten Volksschulklasse in Lengfeld/Otzberg, ihrem Heimatort, war das der Blockflötenunterricht, den die Klassenlehrerin anbot.

Später sorgte ein junger Lehrer an der Schule für kostenlose Klavierstunden - wieder war Lucia Schnellbacher mit Begeisterung dabei. Und auch mit Fleiß, nachmittags ging sie zum Üben - die Frau des Hausmeisters schloss das Schultor auf - und wann immer ein Kind die ihm zugeteilte Zeit zum Üben versäumte, war sie zur Stelle. Ohne Zögern ging sie auf das Angebot ihres Lehrers ein, der auch Organist war, doch einmal die Orgel auszuprobieren - »ich habe das einfach gemacht«, sagt Lucia Schnellbacher rückblickend. Beim Orgelspielen blieb sie während ihrer Ausbildung zur Erzieherin am Elisabethenstift und auch während der ersten Jahre in diesem Beruf. Sie wohnte damals bereits in Darmstadt, spielte aushilfsweise in verschiedenen Kirchen die Orgel, besuchte Kurse und arbeitete bei Hermann Unger, dem damaligen Kantor der Stadtkirche. Einige Jahre leitete sie an der Kantorei Kurse mit Kindern, die sie auf ihre Aufnahme im Kinderchor vorbereitete.

In dieser Zeit wurde ihr klar, dass der Beruf der Erzieherin nicht ihren Neigungen entsprach. Sie blieb zwar in Darmstadt in einer billigen Wohnung, fuhr aber täglich nach Frankfurt zum Orgelstudium. Nach acht Semestern schloss sie die Ausbildung erfolgreich ab und kam im September 1975 als Organistin an die Martinskirche.

Auch außerhalb der Kirche konnten viele sie hören. Als das Glockenspiel im Schloss noch von Hand gespielt wurde, gehörte Lucia Schnellbacher zu denen, die es regelmäßig zum Erklingen brachte, und sie spielte es auch bis in die 1990er Jahre immer wieder zur Eröffnung des Heinerfestes.

Neben ihrer Arbeit als Organistin hat Lucia Schnellbacher noch etwas ganz Besonderes geleistet.

Im Gegensatz zu vielen im Musikbetrieb etablierten Frauen - von den Männern ganz zu schweigen - akzeptierte Lucia Schnellbacher nicht, dass die Komponistinnen in der einseitig männlich dominierten Musik völlig fehlten. Die Aussage eines Lehrers "Frauen können nicht komponieren" ließ ihr keine Ruhe und erregte ihren inneren Widerspruch. Eines Tages begann sie mit der Suche. Die ersten Namen, die auftauchten, waren Fanny Hensel-Mendelsohn und Clara Schumann-Wieck, aber sie hatten wenig Orgelmusik geschrieben.

Fündig wurde Lucia Schnellbacher in mühsamer Kleinarbeit, in der Universitäts- und Landesbibliothek, die damals noch Hochschulbibliothek hieß, bei einzelnen Verlagen und Musikhochschulen. Sie durchforstete historische Bücher, jeden Prospekt, jedes Verlagsprogramm, das ihr in die Hände kam, auf der Suche nach Frauennamen. Orgelmusik von Frauen war besonders schwer zu finden. Sie entzifferte mühsam handschriftliche Partituren - einmal einen ganzen Sommer lang auf dem Balkon - denn manche der von ihr entdeckten Werke waren noch nicht gedruckt.

1983 gab sie in der Martinskirche das erste Komponistinnenkonzert und wirkte bei der Publikation des renommierten Schott Musikverlags "Frauen komponieren" mit. Weitere Konzerte folgten, das bisher letzte am 30. Oktober 2005 in der Martinskirche, wo Lucia Schnellbacher mit großem Können Werke von englischen Komponistinnen wie Elisabeth Stirling (1819-1895), Ethel Smyth (1858-1944), der Französin Cécile Chaminade (1857-1944) und der deutschen Johanna Senfter (1879-1961) spielte. Die letztere Komponistin stammt aus Oppenheim, ist aber durch die Uraufführung mehrerer Werke in Darmstadt mit unserer Stadt verbunden. Weitere drei Komponistinnen des Abends waren die Amerikanerin Emma Lou Diemer (geb. 1927), die Ungarin Erzsébet Szönyi (geb. 1924) und die Deutsche Dagmar Koptein (geb. 1957).

Inzwischen ist es einfacher geworden, es gibt zunehmend Partituren von Komponistinnen zu kaufen, auch wenn ihre Musik viel zu selten im Konzertsaal, in der Kirche (außer in Darmstadt in der Martinskirche!), im Radio und Fernsehen zu hören ist. Spezialisiert auf Komponistinnen hat sich der Furore Verlag in Kassel.

Bei ihrer Suche nach Komponistinnen hat Lucia Schnellbacher in der Kirchenmusik wahrhaftig Pionierinnen-Arbeit geleistet, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Auch in Zukunft wird in der Martinskirche immer wieder auch die Musik von Frauen zu hören sein.

Barbara Obermüller

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