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Nach wie vor praktiziert Dr. Margarete Mitscherlich trotz ihrer fast 90 Jahre mehrmals in der Woche als Psychoanalytikerin im Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt, das sie 1960 mitbegründet hat und zusammen mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich jahrelang leitete. Sie erhielt 1982 die Wilhelm-Leuschner-Medaille, 1983 den Kulturpreis der Stadt Flensburg, 1990 die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt am Main, 2001 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, 2005 den Erwin-Chargaff-Preis der Universität Wien und den Tony-Sender-Preis der Stadt Frankfurt (s. Porträt in Heft 86).

»Wir sind alle viel weiblicher geworden«

Dr. Margarete Mitscherlich im Gespräch mit

Frau Dr. Mitscherlich, Sie haben vor ca. 20 Jahren wichtige Bücher zur Emanzipation der Frau geschrieben. Sie haben z.B. die These aufgestellt »Die Zukunft ist weiblich, oder es gibt sie nicht«. Wie sehen Sie das heute – sind wir inzwischen auf dem Weg in eine weibliche Zukunft?

Ich denke, wir sind alle sehr viel weiblicher geworden. Mit weiblich meine ich natürlich die Werte, die der Frau zugeschrieben werden: die Einfühlungsfähigkeit, das Mitleid, die Fähigkeit miteinander zu reden, wenn Auseinandersetzungen stattfinden und nicht nur als einzigen Ausweg andere Menschen bekämpfen zu müssen. Wenn wir immer nur Feindbilder in andere Menschen projizieren, die dann in uns wiederum alle bösen Eigenschaften sehen, dann führt das ständig zu Kriegen, wie wir das ja seit Jahrhunderten erleben. Wenn die weiblichen Eigenschaften nicht Allgemeingut werden, ist das Ende abzusehen.

Was halten sie von unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Im großen und ganzen macht es unsere Kanzlerin recht gut. Sie scheint sehr gut zu Gesprächen befähigt zu sein, sie kann gut zuhören. Es ist ja eher die Art der Männer, über sich zu sprechen und nicht zuhören zu können..
Ich freue mich als Feministin natürlich außerordentlich, dass eine Frau zum ersten Mal in der Geschichte Oberhaupt dieses Landes geworden ist.

Sind sie der Meinung, dass es Frauen und Männern inzwischen besser gelingt, aus den festgefahrenen Geschlechterrollen auszubrechen?

Die vergangenen Jahrhunderte haben in Richtung Denken und in Richtung Vorurteile – gerade bezüglich der Geschlechterrollen bestanden ja enorme Vorurteile – sehr viel gebracht an Fortschritten im Denken.
Aber das war ein langer Weg. Man muss sich nur die Geschichte der letzten Jahrhunderte ansehen.
Es gab ja in Deutschland nicht nur die »neue« Frauenbewegung, sondern schon eine während und vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Ihre Vertreterinnen waren sehr bürgerlich und nationalbewusst und manche befürworteten sogar den ersten Weltkrieg. In Frankreich kämpften Frauen bereits im siebzehnten Jahrhundert um ihre Rechte, in England noch früher. Deutschland ist die verspätete Nation – verspätet als Demokratie, verspätet in allem, auch in der Frauenbewegung. Aber sie hat sich in den zwanziger Jahren auch in Deutschland durchgesetzt. Dann kamen die zwölf Jahre der Katastrophe mit Hitler, da wurde alles unterdrückt, was modern und fortschrittlich und dem westlichen Denken verhaftet war. In Deutschland war der Versuch einer demokratischen Entwicklung sehr kurz und es blieb wenig Zeit.
Die Fünfziger Jahre waren ja auch eine Art von Rückwärtsgang , da wurden noch ziemlich spießige, bürgerliche Vorurteile gepflegt, wie eine Frau zu sein hätte und was eine Frau darf. Aber auch in Deutschland konnten die Frauen studieren, schon seit längerer Zeit. Als ich studierte – ich bin 1917 geboren – war das schon selbstverständlich.

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die Frauen in der rechtsextremen Szene?

So wie ich es sehe, bestehen die Neonazis soweit sie gewalttätig werden und auf aggressive Weise ihre Fremdenfeindlichkeit äußern – Schwarze angreifen oder aggressiv antisemitische Vorurteile äußern – hauptsächlich aus jungen Männern. Die Frauen spielen keine so große Rolle, zumal Nazis Herrenmenschen sind, bei denen Frauen eine untergeordnete Rolle einnehmen. Sie werden höchstens für Sex oder zum Kaffeekochen gebraucht.

Sie haben in Ihrem Leben immer wieder mit Erfolg wichtige Themen angesprochen. Gibt es für die Zukunft Dinge, deren Verwirklichung Ihnen am Herzen liegt? Haben Sie eine Vision für mehr Frieden und Gerechtigkeit in der Welt?

Eine große Gefahr für den Frieden ist die Tatsache, dass Religionen sich neuerdings wieder bekämpfen, dass jede die eigene Religion für die einzig wahre Religion hält. Besonders problematisch ist die Scharia im Islam und die Situation im Nahen Osten.
Ich wünsche mir, dass die Menschen endlich lernen, das Denken der anderen zu verstehen, oder wenigstens den Versuch machen, sich einzufühlen. Eine Frau muss das ja prinzipiell, sie muss sich in ihre Kinder, in ihren Mann, in die Gesellschaft einfühlen. Diese Fähigkeit müsste Allgemeingut werden. Es müsste möglich sein, dass die verschiedenen Religionen das Denken der anderen respektieren, voneinander lernen, und sich nicht aus ideologischen Gründen totschlagen.

Die Art, wie Sie mit dem Altern umgehen, könnte ein Vorbild für andere Frauen sein. Wie haben Sie das Altwerden erlebt?

Ich finde es sehr mühsam alt zu werden, weil der Körper ja ein immer schwerfälligeres Anhängsel wird. Also diesen Körper morgens aus dem Bett zu kriegen... und dann kann er nicht mehr ordentlich gehen! Früher sprang ich aus dem Bett und konnte mich meines Körpers erfreuen und es war ein Spaß zu laufen, zu gehen. Der Körper wird immer mehr zur Last . Es wird mir immer wieder gesagt: »Seien Sie doch froh, dass es bei Ihnen n u r den Körper betrifft«. Aber solange wir leben, sind Körper und Seele absolut verbunden. In dem Moment, wo der Körper weg ist, ist die Seele auch weg. Wo immer sie dann ist, das ist Glaubenssache.

Barbara Obermüller

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