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MATHILDE

Anorexia nervosa
ist das, was weitläufig als Magersucht bezeichnet wird. Die Betroffenen sind – auch bei offensichtlicher Abmagerung – permanent der Auffassung zu dick zu sein. Sie zeigen ein gestörtes Körper- und Selbstbild, essen sehr, sehr wenig und führen Erbrechen herbei.

 

Bulimie
Die Betroffenen nehmen in regelmäßigen Essanfälle enorme Mengen Nahrung auf. Darauf folgt meist selbstherbeigeführtes Erbrechen. Da die Ess-Brech-Anfälle häufig von Schamgefühlen begleitet sind, werden sie selbst vor den engsten Vertrauten verheimlicht.

 

Adipositas,
wird auch Esssucht genannt. Die Betroffenen nehmen unkontrollierte Mengen an Nahrung auf, ohne zu erbrechen. Sie essen weit über das Sättigungsgefühl hinaus. Danach empfinden sie Schuldgefühle und Selbstekel. Sie leiden unter ihrer Fettleibigkeit.

Wenn ich schön bin …

»Wahrscheinlich war es von Anfang an krank, abnehmen zu wollen«

Interview mit einer Magersüchtigen auf dem Weg der Besserung.

Die junge Frau möchte anonym bleiben.

 

Es gibt zwei Arten von Magersucht. Von welcher warst du betroffen?

Das ist schwer zu sagen, denn die beiden liegen sehr nah beieinander. Bei Bulimie isst man viel und erbricht danach, bei Anorexia nevosa hungert man. Beiden geht es darum abzunehmen. Viele Menschen, die unter Anorexie leiden bekommen gelegentlich einen »Fressanfall»- das ist Wahrnehmungssache, für mich waren das zwei Scheiben Brot- und entledigen sich danach ebenfalls der vielen Nahrung. So war das auch bei mir.
Genau genommen gibt es zwei Arten von Essstörungen. Die Anorexia nervosa ist die Magersucht. Von dieser war ich betroffen und diese habe ich noch nicht vollständig überwunden. Ich halte mich nur auf einem Gewicht, das nicht lebensgefährlich ist. Trotzdem kann ich nicht befreit und ohne Hemmungen essen.

Wann und warum hast du damit angefangen?

Ich war 17 und wollte einfach nur abnehmen. Ich war schon dünn, mein Gewicht befand sich mit 60 Kilogramm im unteren Bereich des Body–Maß-Index. Wahrscheinlich war es von Anfang an krank, abnehmen zu wollen. Ich wollte schön sein, dem Schönheitsideal entsprechen.
Die Vorgeschichte war Mobbing in der Schule vor ein paar Jahren. Das gab mir das Gefühl hässlich zu sein. In der elfen Klasse, als ich mir Mühe gab, mich anzupassen, Freunde fand und versuchte, andere zu integrieren, hatte ich dann das Gefühl, eine Riesenlüge zu spielen und mich selbst mit der Aufgabe, eine möglichst gute soziale Atmosphäre für alle zu schaffen, zu überfordern.
Dann geriet ich in Konflikt mit meiner Tutorin, die gleichzeitig die Mutter meiner damaligen Freundin war. Die Sache eskalierte, der ganze Jahrgang spaltete sich in zwei Parteien, viele meiner Freunde ließen mich hängen. Erstaunlicherweise ließen mich die meisten meiner Freunde gerade nicht hängen. Nur die Leute aus meinem Tutorium haben mich geschnitten. Ich war ja bereits ein gebranntes Kind, nun konnte ich keinem mehr vertrauen - wobei ich sagen muss, dass es mit dem Vertrauen in die anderen voher schon nicht weit her war.
Nach diesem Mobbing in der zehnten Klasse (als mich sogar meine besten Freundinnen im Stich gelassen haben) war ich dazu gar nicht mehr in der Lage. Den Teil, den ich für die Essenz meiner Persönlichkeit hielt, habe ich tief in meinem Innern verborgen. Denn er war gefährlich und abstoßend für mich. Trotzdem war er mein Leben. Deshalb musste ich ihn vor anderen schützen.
Was blieb, war mein Körper, der für andere sichtbar war - meine Hülle- und die musste schön, ja perfekt, sein Ich dachte, wenn ich schön bin, biete ich keine Angriffsfläche mehr. Und um schön zu sein, muss ich abnehmen. Was ich sah, wenn ich in den Spiegel schaute, fand ich abstoßend, ich war unzufrieden, fühlte mich dick und unwohl. Zuerst fing ich an Sport zu treiben. Dann wollte ich immer mehr meine Leistung steigern. Ich war regelrecht sportsüchtig. Das kombinierte ich mit Süßigkeiten- und Fettverbot.

Galt dieses Prinzip »je dünner desto schöner» denn auch für andere?

Nein, das hatte ich nur auf mich bezogen. Für andere galten andere Regeln. Wenn ich durch die Stadt lief oder fernsah achtete ich krankhaft auf das Aussehen und Alter anderer Frauen, ob sie auch magersüchtig sind. Ich schaute, wer dünner ist, sie waren sozusagen meine Konkurrentinnen. Trotzdem fand ich sie schön. In meinem Kopf habe ich so gut wie jede Schönheitskonkurrenz verloren. Vor allem hielt ich mich für dicker als ich de facto war.

Und wie nahm die Geschichte ihren Lauf?

Anfangs fühlte ich mich tatsächlich schöner. Ich setzte immer mehr auf die rote Liste, was ich nicht mehr essen darf. Zudem bekam die Magersucht noch einen ganz anderen Stellenwert: Während der Turbulenzen in der Schule gab sie mir Sicherheit und das Gefühl Kontrolle über mich zu haben. Sie war immer da und wurde für mich eine Art Konstante. Mein Spiegelbild war auch gar nicht mehr entscheidend, sondern das Erfolgserlebnis morgens auf der Waage zu stehen und zu sehen, dass sie wieder weniger anzeigt. Innerhalb von dem halben Jahr hatte ich sieben Kilo abgenommen. Ganz krass wurde es aber erst nach dem Schulwechsel. Ich wurde krank, lag drei Wochen lang mit Grippe im Bett und aß nur einen Apfel am Tag.

Wie hast du das denn ausgehalten? Hattest du keinen Hunger?

Der Hunger hört einfach auf. Das fand ich nicht komisch.

Ich stelle mir das aber ganz schön anstrengend vor.

Ich lag im Bett und fantasierte vor mich in. Ich war kaum noch richtig anwesend. Mir war kalt. Ich spürte, wie mir die Kälte die Knochen hoch kroch. Während dieser Zeit fing ich an darüber nachzudenken, wie es wäre zu sterben.

Das klingt gefährlich.

War es auch. Ich weiß nicht, wie lange es noch gut gegangen wäre. Bei Magersucht versagt der Herzkreislauf plötzlich, man kippt ganz unvermittelt um.

Hast du viel getrunken?

Ich habe mir literweise Leitungswasser reingekippt. Das füllt den Magen. Könnten ungefähr zehn Liter pro Tag gewesen sein.

Und wie wurdest du wieder gesund?

Die Grippe wurde einfach besser. Innerhalb dieser drei Wochen hatte ich zehn Kilo abgenommen. Ich ging in eine neue Schule und spürte, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte. Ich war gar nicht leistungsfähig. Und wenn ich durch die Stadt lief, bekam ich Lust etwas zu essen. Ich vertröstete mich, dass ich mir später Griesbrei mit Äpfeln machen würde. Bis ich das dann aber tatsächlich tat, mussten noch einige Wochen vergehen.

War es schwer wieder mit dem Essen anzufangen?

Ich dachte, ich könne jederzeit wieder anfangen mit dem Essen. Aber so ging das nicht. Ich hatte nach allem, was ich aß ein Völlegefühl im Magen. Aber es half mir eine wichtige Entdeckung zu machen. Beim Milchreisessen bemerkte ich, dass nicht ich es bin, der meinen Körper kontrolliert, wie ich die ganze Zeit dachte, sondern, dass die Krankheit mich kontrolliert.

Hat keiner aus deiner Familie, von deinen Freunden etwas bemerkt oder gesehen?

Mir war immer kalt, deshalb habe ich viel angezogen. Außerdem wollte ich meinen Körper verstecken.

Hast du andere um Hilfe gebeten?

Nach sieben Monaten, als ich wieder in die Schule ging, spürte ich, dass ich kaum noch lebensfähig war. Ich hatte Kreislaufprobleme und bekam ich es mit der Angst zu tun. Bis dato war mir überhaupt nicht bewusst, dass ich ein Problem habe, krank sein könnte. Ich wusste, dass ich bewusst an mir arbeiten muss, spürte gleichzeitig aber, dass ich es alleine nicht schaffen würde. Also ging ich zu meinen Eltern und stellte ihnen mein Problem dar. Das war meine Entscheidung zum Leben.

Wie haben sie darauf reagiert?

Wie sich herausstellte, hatten sie sich schon einige Zeit vorher um mich gesorgt, sogar gefürchtet, dass ich demnächst sterben würde. Sie hatten sich hilflos gefühlt, hatten keine Idee, wie sie auf mich zugehen könnten. Meine Mutter hatte versucht, mir Fett unters Abendessen zu mischen. Aber das hatte ich gemerkt. (Außerdem vermied ich sowieso das gemeinsame Essen).
Deshalb waren sie enorm erleichtert, als ich auf sie zukam. Wir haben lange und intensiv über die vergangene Zeit gesprochen. Sie unterstützten mich bei der Suche nach einer Therapeutin (und sie kauften mit großer Lust »Mastessen« für mich.)

Und dann hast du mit einer Therapie angefangen.

Ja, ich wollte eine Therapie machen. Ich habe eine Gruppen- und eine Einzeltherapie bei der gleichen Therapeutin gemacht.

Wie liefen die ab?

Wir alle in der Gruppentherapie hatten eine Art der Essstörung. Durch das Teilen von Erfahrungen konnte ich sehen, welche Probleme die anderen hatten und wie sie damit umgehen. So konnte ich ähnliche Verhaltensstrukturen auch bei mir bewusst wahrnehmen. Wir haben auch viel für den Aufbau von Selbstausdruck und Körpergefühl gemacht, zum Beispiel malen und tanzen. Das war ziemlich gut.

Was hast du von der Gruppentherapie mitgenommen?

Das ist sehr persönlich.

Und wie war die Einzeltherapie?

Die Gesprächstherapie hat mir gefallen und sehr gut getan. Meine Weltperspektive war sehr negativ, ich dachte, man könne das Leben auch lassen. Meine Therapeutin hat mir gezeigt wie ich meine Erfahrungen anders deuten kann, im positiveren Sinne. Aber sie hat mir das nicht einfach gesagt, sondern sie hat mir geholfen das aus mir rauszuholen. So haben sich mein Weltbild und meine Erinnerungen Stück für Stück verändert.
Ich habe zum Beispiel ein Bild für die Magersucht entwickelt: Ein schwarzes, dürres Tier mit ganz langen, feinen Gliedern. Seine langen Finger dringen in meinen Körper saugen mich aus. Besonders umschlingen sie meinen Kopf, und verzwirbeln sich untrennbar mit meinen Gehirnwindungen. Aber das ist kein anderes Wesen, das ich einfach bekämpfen könnte, sondern ein Teil von mir selbst. Es ist ein anderes Bewusstsein in meinem Kopf. Trotzdem bin ich für die Magersucht verantwortlich- und ebenso auch für mein Leben-, das weiß ich. Ich muss an mir selbst arbeiten.

Wie geht es dir heute damit?

Es ist nicht leicht damit umzugehen. Ich habe zwar keine rote Liste mehr, aber ich achte schon darauf, was ich esse, was ab und zu recht zwanghaft ist. Nach dem Essen fühle ich mich dick und aufgebläht. Ich in schlecht gelaunt, wenn ich zunehme. Anfangs hatte ich Angst die Kontrolle zu verlieren, hatte Horrorfantasien, dass alles ins Gegenteil umschwenkt.

Hattest du auch Rückfälle?

Ja, zweimal: Auf Stress reagiere ich tendenziell immer noch mit Abnehmen. Ich merke zwar, wenn ich in eine Magersuchtstruktur hineingerate, aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich da einfach herausziehen kann. Ich bin dann permanent im Widerspruch mit mir selbst, so als ob das linke Bein in die eine und das rechte in die andere Richtung gehen. Nichtsdestotrotz entwickle ich Strategien, um mich aus frustrierenden oder sehr negativen Stimmungen herauszuholen, zum Beispiel, wenn ich merke, dass mir meine Gefühle entgleiten. Aber das kommt nicht mehr so häufig vor. Die Magersucht verliert immer mehr an Einfluss.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Dass ich essen kann, was und wann ich Lust habe, ohne mir Gedanken über Kalorien zumachen. Ich will mich wohl fühlen in meinem Körper, in mir selbst ruhen und mich gehen lassen können. Ich will leben.

Lieben Dank für das Interview. Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft.

Sonja Tonn

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