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Ursula Koch kann ihren Traum von einer Bühnenschuspielerin nicht verwirklichen. Stattessen wird sie Lehrerin - Literatur bleibt ihre große Leidenschaft.

Fotowand des Familienclans in der Bibliothek, dem Schatzraum der 83jährigen

Ursula Koch kann ihren Traum von einer Bühnenschauspielerin nicht verwirklichen. Stattdessen wird sie Lehrerin - Literatur bleibt ihre große Leidenschaft.

 

"Ich lebe immer noch furchtbar gern"

Muse, Mutter und Mittlerin - Ursula Koch (83)

Klein, mit Pagenschnitt, in bequemer Hose- Hemdblusenkombination öffnet sie die Tür, freundlich schimpfend über den ungebührlichen Besuch um die Mittagsstunde. Sie wirkt entspannter als in ihrer Dienstzeit, damals hatte sie gewöhnlich gemusterte Kleider und eine Dauerwelle getragen. Die Wohnung riecht nach dem Tagwerk der Putzfrau, die, sehr zum Unwillen der Hausherrin, wieder die Bibliothek umdekoriert hat. Dort stehen einige Hundert Bände mehr als vor 25 Jahren, viel Bekanntes zwischen bibliophilen Schätzen.

Ursula Koch, Oberstudienrätin zuletzt an der Giessener Liebigschule mit der Fächerkombination Latein, Deutsch und Englisch ist seit 1988 außer Dienst, keinesfalls aber ohne Betätigung. Die Melange aus Humanistin, Bohemienne und leidenschaftlicher Literaturliebhaberin lebt gerne.

Geboren im Juni 1923 als Tochter des oberhessischen Lehrers und Südamerikaforschers Theo Koch, wächst sie nach dessen frühen Tod 1924 während einer Brasilienexkursion in Gießen auf. Die gebildete und ursprünglich begüterte Mutter war dorthin aus Stuttgart übersiedelt, um sich in der Nähe von Schwiegermutter und der Familie ihres Mannes ihre Unabhängigkeit bewahren zu können. Dort entsteht auch in der Nähe des Klinikviertels das Wohnhaus, das diese Frau von ihrem Kleinkindalter an immer als Lebensmittelpunkt behalten wird. Schon früh infizierte sie sich mit dem Virus Literatur, träumt von einer Karriere als Bühnenschauspielerin. Sie fühlt sich in die Grillparzerschen Tragödinnen ein, kann deren Rollen auswendig - doch das Theater der Nazizeit lehnt sie ab, weil sie ein Glasauge trägt. Die akademische Karriere steht ihr noch immer offen, sie lässt fortan Sprechstimme und theatralische Begabung dem Nachwuchs zugute kommen.

Lehramsstudium mit den Fächern Latein, Germanistik und Englisch im Nebenfach an der Universität Marburg. Die ersten beiden Fächer hat sie mit dem Vater gemeinsam. Sie lebt im schützenden Kokon und zugleich mit den Herausforderungen, die eine Großfamilie an das Individuum stellt - die beiden älteren Schwestern gründen früh selbst Familien und so geht sie davon aus, dass sie deren Vorbild folgen und selbst Kinder haben wird.

»Ein guter Mann, denn auf den kam es schließlich an«, will sich allerdings zu diesem Zweck nicht einstellen. »Das lag nicht nur an der Männerknappheit nach dem Krieg, denn andere fanden auch ein passendes Gegenstück.« Die resolute und enthusiastische Lehrerin fand nach kurzen Lehr- und Wanderjahren in Wiesbaden und Hadamar immer mehr Gefallen an den Herausforderungen der Berufstätigkeit. Grünberg in Oberhessen, die Heimatstadt des Vaters, der auch Namensgeber der dortigen Gesamtschule ist, wird zum ersten Meilenstein ihrer Berufslaufbahn. Sie startet als Jüngste des Kollegiums; 2006 wird sie zu einem Festakt an den Ort ihres früheren Schaffens eingeladen, von dem einstigen Kollegenkreis ist sie alleine übrig geblieben. Nach fast einem Jahrzehnt zieht es sie aus der Provinz zurück in die Kreis- und Universitätsstadt - es gilt die zugleich zart-robuste Mutter zu betreuen und für sich selbst das ureigene Talent als Literatur- und Lebenscoach anderer zu entwickeln.

»Dass ich keine eigenen Kinder haben konnte, ist ein großer Schmerz in meinem Leben«, sagt Ursula Koch heute noch. Sie hat aus der Not eine Tugend gemacht. Der Familienclan, inzwischen schon im Enkel- und Urenkelformat, bevölkert das Koch‘sche Universum, lächelt in Fotorahmen von den Wänden herunter, unterbricht per Telefon die Teestunde oder ist gerade von einem mehrtägigen Besuch wieder abgereist.

»Tante La« interessiert sich nicht nur für die Probleme Pubertierender, sie nimmt generell alle Lebenskrisen ernst und bezaubert die Urgroßnichten im Kleinkindalter durch ihre Vorlesekünste. Sie hat zwar keine selbstgemachten, dafür aber »Beute«- und »Vizekinder«, »Fast-Söhne« und ein Heer von ehemaligen SchülerInnen, die sie mit ihrer Literaturliebe angesteckt hat. Der Giessener Autor Thomas Hettche war einer ihrer Schüler, noch heute liest sie jedes seiner Skripte vor Erscheinen des Werks. »Wie der sich entwickelt hat - heute begegnen dir in seinen Büchern reale Menschen aus Fleisch und Blut«, begeistert sich die Mentorin, die inzwischen selbst unter die Theaterautorinnen gegangen ist.

Theaterregie hatte sie schon zu Schulzeiten geführt, mit Begeisterung die Singspiele und komischen Opern umgesetzt, die sich die ambitionierten Musikklassen erarbeiteten. Dann setzt die Pensionierung Ende der 80er Jahre eine Zäsur. »Eigentlich wollte ich gerne Theologie studieren, aber die Erzählungen meiner sich inzwischen im Studium befindlichen Schüler haben mich abgehalten. Ich wollte nicht den Jungstudenten die Zeit der Professoren wegnehmen und eine der unbeliebten Alten in der Universität des 3.Lebenalters werden« begründet die Seniorin ihre Entscheidung. Sich selbst sieht sie in dieser Lebensphase als abgeholzten Baum, der nun Unterholz treiben musste. »Die Herbstzeitlosen« hieß die erste Blüte, die sich zeigte. Eine Seniorentheatertruppe, die ihre Stücke selbst entwickelt, von der »Köchin« in literarische Form und dann auf die Bühne bringen lässt. Inzwischen sind die AkteurInnen ab Mitte 70.

»Es geht immer gut aus und da gibt es auch hessisches Lokalkolorit zur Freude des Publikums« stapelt die Theaterfrau tief, es freut sie aber doch, dass ihr Ensemble bis zu sechs Abenden den Saal der Giessener Lukasgemeinde füllt. Das Seniorenteam widmet sich durchaus aktuellen Themen, im nächsten Stück haben sie sich der Mobbing-Problematik angenommen.

Politisch war sie der gastgebenden Gemeinde 40 Jahre lang als Gemeinderatsmitglied verbunden, dass sie ihr Amt als 80jährige 2005 niederlegte, bedeutete nicht das Ende ihres Engagements: Sie leitet noch einen Literaturkreis, beliefert das Gemeindeblatt mit ihren Artikeln und bereitet gerade eine Gemeindefreizeit vor. Ach ja, und da wäre auch noch ein weiterer privater Literaturzirkel bei Ursula Koch zuhause, der ebenfalls wöchentlich betreut sein will. Bei so viel Lebensenergie fällt es schwer auch die Untiefen wahrzunehmen, die diese Frau geprägt haben. Der Tod der Mutter in 1972, der sie in eine tiefe Sinnkrise stürzte. »Ich dachte, dass ich nie wieder lachen könnte«, beschreibt sie diese Zeit, die mit den Nachwehen der 68er zusammenfiel.

»Ich war von den neuen Ideen sehr begeistert, aber die Jungen gaben die ‚Trau keinem über 30’-Parole aus und wir älteren waren abgeschrieben.« Letztendlich habe sie sich immer wieder selbst am eigenen Zopfe aus dem Desaster herausgezogen, ihr Leben auf drei Pfeilern aufgebaut, die sie mit Liebe zu den (bevorzugt jungen) Menschen, Büchern und der Natur beschreibt.

»Immer wenn ich im Herbst Blumenzwiebeln einpflanze, frage ich mich, ob ich sie noch im Frühling werde blühen sehen«, sagt sie nachdenklich und bietet von ihrem, bei den Schülergenerationen legendär gewordenen Quittengelee an. »Und wenn ich das dann im Frühjahr erleben darf und die Vögel dazu singen, bin ich glücklich darüber, dass die Welt so schön ist.« Die große alte Dame liebt es die Ernte ihres Gartens einzukochen, setzt Fruchtliköre für den Eigenbedarf an und gönnt sich abends zur guten Lektüre noch eine Zigarette dazu. Das Leben selbst ist ihr Abenteuer, auch wenn sie finanziell niemals Not litt: Leben und Leidenschaft für die Menschen. Ihr Temperament machte es nicht allen leicht damit zu leben, zumal sie offensichtlich Dummheit und Dummköpfe nicht leiden kann. Und sich, trotz guter Erziehung, den Luxus von Geradlinigkeit und Ehrlichkeit leistet. Sie geht davon aus mindestens 87 zu werden, »aber vielleicht habe ich auch das Glück und lebe noch länger. Alleinstehende Lehrerinnen werden oft sehr alt.« Beim Abschied bedankt sie sich für den Besuch, »auch wenn er mich zeitweise doch sehr angestrengt hat.«

Andrea Krüger

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