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MATHILDE

Dr. Helga Timm

  • Geboren 1924 in Hamburg
  • Studium der Geschichte, Promoviert zur Sozialgeschichte des Endes der Weimarer Republik
  • 1953 als erster Band der Reihe »Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien« gedruckt worden
  • 1946 Eintritt in die SPD
  • Vater starb 1950
  • 1953 - 65 am UNESCO Institut für Jugendfragen
  • 1969 -1990 Abgeordnete der SPD im Bundestag
  • 1973 - 1986 Geschäftsführerin der Fraktion
  • 1979 - 1993 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN)

Helga Timm lebt seit einigen Jahren im Wohnpark Kranichstein. Auslöser für die Entscheidung dorthin zu gehen, war ihre ältere Schwester und deren Alzheimererkrankung. Auf dem Foto sind beide auf einer Bootsfahrt auf dem Bodensee (Helga Timm rechts im Bild)

Mit 80 fühlte ich mich das erste Mal alt

Interview mit Dr. Helga Timm, ehemalige Geschäftsführerin der SPD-Franktion und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen

Helga Timm wuchs in einer sozialdemokratisch denkenden Hamburger Handwerkerfamilie, die Wert auf die Bildung ihrer Töchter legte, auf. Sie besuchte in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine pädagogische Versuchschule. Bis 1933 wurden dort Jungen und Mädchen zusammen unterrichtet. Der Geist dieser Volksschule war weltoffen und sozialdemokratisch. Diese Zeit empfindet Helga Timm rückblickend als einen der prägenden Abschnitte für ihren weiteren Lebensweg und für ihr Denken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie eine der MitbegründerInnen der Gruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Aus dieser Zeit stammen viele Kontakte, Menschen, die ihr Leben begleiteten und prägten , so zum Beispiel zu Helmut Schmidt. Während ihres Geschichtsstudiums und danach arbeitete sie im Bereich der politischen Bildung. Als sie 26 Jahre alt war, starb ihr Vater und ihre Studienzeit fand ein abruptes Ende. Sie musste Geld verdienen. Mit der Mutter wickelte sie gemeinsam den väterlichen Zimmereibetrieb mit allen Aktiva und Passiva ab - eine Tätigkeit, die keine der beiden Frauen jemals gelernt hatte.

Ihr erster beruflicher Schritt führte sie an das UNESCO Institut für Jugendfragen, wo sie internationale ExpertInnentreffen zum Thema Jugend organisierte. In diesem Rahmen setzte sie sich mit der Benachteiligung von Mädchen, insbesondere den Schwierigkeiten ihrer Bildungswege, auseinander. Die Idee einer sozialen Rolle wird in der Gesellschaft dieser Zeit zum Begriff. Nach Auflösung des Institutes 1965 ging sie als hauptamtliche Dozentin an die Akademie der Arbeit der Frankfurter Universität, wo sie junge Gewerkschafter in Sozialpolitik und internationaler Verständigung unterrichtete.

Ende der 1960er wird die Frage an sie herangetragen, ob sie als zweite Frau auf die hessische Landesliste der SPD möchte. Trotz eigener erster Zweifel an ihrer Fähigkeit für diese Aufgabe, war ihr dennoch klar, dass sie nur auf einem aussichtsreichen Listenplatz an den Start gehen würde. Ihre Planung ging auf: sie zog als Abgeordnete nach Bonn. Trotz der gänzlich neuen Tätigkeit und aller Zweifel hatte sie bald das Gefühl »angekommen« zu sein, den richtigen Platz für sich gefunden zu haben.

In ihrer Bonner Zeit war es ihr immer wichtig in Bereichen zu arbeiten, in denen sie eine Chance für die Auswirkungen ihrer Arbeit sah. So arbeitete sie als Geschäftsführerin der Fraktion, war dort unter anderem für die Besetzung der Ausschüsse zuständig. Für jedes Interesse musste ein Ort gefunden werden, da nur ein innerlich engagierter Mensch sein Bestes geben konnte. Aber es mussten auch alle Bereiche bedacht werden, Ausschüsse und Personen zueinander geführt werden.

Sie arbeitete im Strafrechtssonderausschuss mit, der die Formen des § 218 und § 175 ebenso wie die sozialrechtliche Verankerung des Versorgungsausgleichs erarbeitete. Diese Reformvorhaben waren auch in ihrer eigenen Fraktion nicht von vorneherein mehrheitsfähig. Die wenigen Frauen mussten mühsam die Männer überzeugen, um im Bundestag die Reformen durchsetzen zu können.

In der DGVN, einer Vereinigung, die für die Idee der Vereinten Nationen in Deutschland werben wollte, Politikberatung anbot, bei der Völkerrechtler und PolitikerInnen miteinander ins Gespräch gebracht wurden, übernahm Helga Timm ab 1979 den Vorsitz. Nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin ging sie in den Auswärtigen Ausschuss, wo sie den Unterausschuss UN schaffen half. Überhaupt zieht sich die Idee der Völkerverständigung wie ein roter Faden durch ihr Leben.

Frau Timm, wie ist Ihr Bild vom Alter im Lauf Ihres Lebens geprägt worden?

Als Kind gab es meinen Großvater, der mir als bärtiger, grauhaariger und verschrumpelter Alter erschien. Die Großmutter hatte etwas von einer Alten aus dem Bilderbuch, wie sie mit ihren wenigen Haaren im Lehnstuhl saß. Meine Mutter passt zu diesen Bildern gar nicht, da sie ein eher mädchenhafter Typ war und mit ihrem lebhaften Gesicht eine gänzlich andere alte Frau darstellte, als meine Großmutter. Ihren Alterungsprozess habe ich durch den engen Kontakt zu ihr kontinuierlich erfahren. Die letzten Jahre habe ich sie zwischen allen Terminen wöchentlich in ihrem Altenwohnheim besucht. Sie starb 94-jährig. Wenn ich den Bogen bis heute ziehe, so habe ich den Eindruck, dass die Menschen gleichzeitig älter werden aber im Alter noch jünger aussehen. Dazu mag auch der Wille jung zu bleiben beitragen.

Wann hatten Sie das erste Mal das Gefühl selber alt zu sein?

Nun, da gibt es zum einen das Gefühl als in der Straßenbahn jemand für mich aufstand. Da wusste ich, dass ich alt aussah. Alt gefühlt habe ich mich das erste Mal mit 80 Jahren. Die altersbedingten Veränderungen von Freunden und besonders von meiner Schwester mit ihrer beginnenden Alzheimererkrankung haben mich besonders stark beeindruckt.

Heute wohnen Sie im Wohnpark Kranichstein. Wie kam es dazu, wie erleben Sie ihren neuen Wohnort?

Da ich keine Familie gegründet habe, war mir schon immer klar, dass ich eine eigene Entscheidung für meinen Wohnort im Alter würde treffen müssen. Das Konzept des Wohnparks hat mir von vornherein gefallen mit seinen fließenden Möglichkeiten von gänzlicher Selbständigkeit bis hin zur Pflegestation. Mir ist bewusst, dass ich in der privilegierten Lage bin, eigenständig in meiner Wohnung zu leben, dabei aber jederzeit alle Hilfe und Unterstützung beanspruchen zu können, die notwendig ist. Der tägliche Anruf, mit dem ich mein Wohlbefinden mitteile, ist eine angenehme Sicherheit. Bei vielen Freunden habe ich leider beobachtet, dass sie sich zu spät für einen Wechsel aus ihren Wohnungen entscheiden. Es bleibt ihnen dann keine Zeit mehr sich sozial in den neuen Wohnort einzuleben. Es war kein leichtes Jahr, in dem ich mich nach und nach von vielem getrennt habe, das in diese neue, kleinere Wohnung nicht mehr passte. Aber ich bin froh, dass ich es zu einem Zeitpunkt angegangen bin, als ich noch alles selber entscheiden konnte. An den vielfältigen sozialen und kulturellen Angeboten des Wohnparks nehme je nach Thema gerne teil. Aber, ich lasse mich heute nicht mehr auf feste Termine ein, die von außen bestimmt sind. Davon hatte ich in meinem Leben zur Genüge.

Was waren die Fixpunkte in Ihrem Leben, in dem ja so vieles dem Wandel unterlag?

Die guten Beziehungen mit und in meiner Familie waren mir immer sehr wichtig. Daran hat sich im Lauf meines Lebens nichts geändert. Da ich sowohl durch die besondere Lage der Frauen meiner Generation, in der viele Männer im Krieg starben, als auch durch meinen Lebensweg keine eigene Familie gegründet habe, konnte ich mich ganz der Politik widmen, besonders der Festigung der parlamentarischen Demokratie.

Da Sie ein langes und vielfältiges Leben bereits hinter sich haben wäre natürlich interessant zu wissen, welchen Rat Sie jungen Frauen, die in die Politik gehen möchten, heute mit auf ihren Lebensweg geben würden.

In jedem Fall sollten sie zuerst einen Beruf erlernen, da die Möglichkeit einer Rückkehr aus der Politik zu einer Arbeit wichtig ist. Und sie sollten nicht zu früh in die Politik gehen. Wichtig ist, dass sie sich für die Gemeinschaft oder Gesellschaft einsetzen, in der sie leben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Anja Spangenberg

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