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MATHILDE

Hrsg, Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt - Stadtarchiv, Wartberg Verlag Gudensberg-Gleichen 2006, ISBN 3-8313-1457-8, ca. 19,90 €

Darmstadt im 20. Jahrhundert

Der Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt hat einen Fotoband herausgegeben, in dem das zwanzigste Jahrhundert in der Darmstädter Stadtgeschichte Jahr für Jahr in Wort und Bild dokumentiert wird.

Im Jahr 1900 beginnt die Aufzeichnung der Ereignisse. Das Großherzogliche Haus spielte noch eine große Rolle in jenen frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, bis dann nach dem ersten Weltkrieg mit der Verabschiedung der »vorläufigen Verfassung des Freistaats Hessen« am 20. Februar 1919 eine neue Zeit begann.

Allerdings weist im Jahr 1919 nur ein einziger Satz darauf hin, dass bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Volkskammer erstmals Frauen wahlberechtigt sind. Es fehlt jeglicher Hinweis auf die damaligen Pionierinnen, die mit ihrer sofortigen Präsenz in der Hessischen Volkskammer wie auch in der Darmstädter Stadtverordnetenversammlung einen Paradigmenwechsel eingeläutet haben. Dazu gehört zum Beispiel Karoline Balser, Stadtverordnete und Landtagsabgeordnete der DDP-Fraktion, die erstmals zahlreiche Frauenthemen in die Politik einbrachte. Zu nennen sind auch die Darmstädterinnen Elisabeth Hattemer, Zentrum, und Lily Pringsheim, SPD, die sich beide mutig gegen die Nationalsozialisten im Landtag zur Wehr setzten.

Sehr deutlich wird in diesem Bildband die soziale Not der Menschen in den 1920er Jahren, die schleichende Abwanderung von BürgerInnen in das rechte politische Spektrum bis hin zur NS-Machtergreifung, zum Krieg, zur Deportation und Ermordung der jüdischen MitbürgerInnen.

Die Darstellung der Nachkriegszeit, des Wiederaufbaus Darmstadts, wecken viele Erinnerungen. Auch verdienstvolle Frauen werden gewürdigt - wenn auch recht selten mit Bild - ganz im Gegensatz zum »Darmstädter Kalender« von 1994, in dem Frauen nur als seltene Ausnahmen vorkamen. Völlig unverständlich ist die Tatsache, dass die Frauenbewegung als stärkste soziale Bewegung des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zur 68er-Bewegung in diesem Band mit keinem Wort erwähnt wird. Dabei haben auch die Darmstädterinnen mit zahlreichen Aktionen zum Beispiel gegen den Paragraphen 218, gegen Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt und gegen die Diskriminierung von Lesben sowie durch die Gründung von Frauenbuchläden, Frauenkulturzentren et cetera bis heute wirksame Akzente gesetzt.
Organisationen wie beispielsweise SEFO, Wildwasser, Mäander und nicht zuletzt die Frauenzeitung sind im Zuge der Frauenbewegung entstanden und haben sich bis heute gehalten. Die Nennung einer Lesung von Alice Schwarzer aus »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen« am 19. Oktober 1975 sowie die Erwähnung der Ernennung der städtischen Frauenbeauftragten Kaj Fölster und Gudrun Groothuis-Eckhardt am 15. November 1986 sind zwar wichtig, machen aber dieses Versäumnis nicht wett.
Die Eröffnung des parteienübergreifend von Darmstädter Politikerinnen erkämpften Frauenkulturzentrums im Jahr 1993 durch die Frauenbeauftragte Trautl Baur war den AutorInnen dieses Buches leider auch keine Meldung wert.
Über ein »neu eingerichtetes Haus für Frauen und Kinder« in Arheilgen wird am 20. Januar 1980 zwar berichtet. Es muss allerdings für eine schon fast skandalöse Verharmlosung gehalten werden, wenn ein Haus für von Gewalt betroffene und bedrohte Frauen schlicht als »Haus für Frauen und Kinder« bezeichnet wird.

Es ist schade, dass eine an sich detailliert und vielfältig angelegte Berichterstattung, die interessante Meldungen und viele schöne Fotos enthält, bei den Belangen der Frauen so viel zu wünschen übrig lässt.

Barbara Obermüller

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