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Engagierte Stadtteilarbeit, mutige Frauen

Leben im Sozialen Brennpunkt.
Begegnung mit Mirela, Claudia und Michelle

»Stadtteilentwicklung ist weiblich«, sagt Mirela Stepanic, »Frauen sind die, die aktiv werden, nicht locker lassen.« Die junge Frau ist Sozialpädagogin und seit vier Jahren in der Darmstädter »Brennpunktarbeit« aktiv. Wir treffen uns in den Räumen von Diakonie und Caritas in der Messeler Straße gemeinsam mit Claudia (36) aus der Rodgaustraße und Michelle (31), die im Akazienweg geboren ist und seit Jahren zur Frauengruppe »Pallaswiesenviertel« gehört. Mirelas Arbeitsschwerpunkt ist Mädchen- und Frauenarbeit. Die umfangreiche städtebauliche Sanierung der Stadtteile »Rodgaustraße« und »Pallaswiesenviertel« während der letzten Jahre wird von den Bewohnern gelobt und bedeutet ein Stück mehr Lebensqualität. Die Integration ins breite Stadtleben bleibt dennoch schwierig: Baumaßnahmen allein sind taugliches Aushängeschild für Stadtteilarbeit, ändern aber noch nichts am schlechten Ruf, der den Wohnvierteln anhaftet. Die isolierte Konzentration der Lebensabläufe in den Brennpunkten wird dank intensiver Gemeinwesenarbeit langsam aufgebrochen. Doch dies braucht Zeit, und für viele Bewohner bedeutet der Ghettocharakter des Alltags auch heute, dass »die Fremde« bereits wenige Straßenzüge weiter beginnt. Die Grenzen sind abgesteckt, die Zugehörigkeit scheint vielfach noch immer zementiert.

»Wenn wir ein Straßenfest feiern und hängen vorher überall Plakate auf, kommt trotzdem kein Fremder«, sagt Claudia. Die schlanke Frau gehört zu einer Großfamilie in der Rodgaustraße. Sie fühlt sich aufgehoben in diesem Verband, Schritte außerhalb verunsichern. Claudia hat zwei Söhne im Alter von elf und dreizehn Jahren. »Meine Schwiegermutter hat noch mit fünfundvierzig Jahren ein Kind bekommen, die Oma hatte zwölf Kinder«, erzählt sie. Claudia und ihr Mann Peter beziehen Arbeitslosengeld II und kommen finanziell kaum über die Runden. Den Fußballverein für die Jungs zu bezahlen, bedeutet einen Kraftakt des Sparens. Noch nie war die Familie gemeinsam in Urlaub.

»Armut und Kinderreichtum gehören zusammen«, sagt Mirela Stepanic. Gerade auch junge Frauen, die keine berufliche Perspektive für sich sehen, entscheiden sich für den Weg in Ehe und Familie. In die Rolle der Ehefrau und Mutter zu schlüpfen, bedeutet Sicherheit. Auch Claudia hat in jungen Jahren keine Ausbildung gemacht. »Ich hatte kein Interesse daran«, sagt sie, »heute bereue ich das und sage meinen Kindern, wie wichtig eine Ausbildung ist.« Überhaupt versucht sie Vorbildfunktion bei den Kindern zu übernehmen: sie ruht sich nicht auf dem schmalen Polster von Hartz IV aus, sondern arbeitet stundenweise als Reinigungskraft in einer Arztpraxis. »Da komm ich mal raus – wenn auch fast der ganze Lohn von der ARGE abgezogen wird«, erklärt Claudia. »Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtverbandes hat jeder Hatz IV – Empfänger täglich 4,37 € für Essen und minimalen Luxus, wie etwa Tabak, zur Verfügung«, ergänzt Stepanic. Claudia wirft die Flinte nicht ins Korn. Sie engagiert sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen in ihrem Wohnviertel. So gehört sie der »Frauengruppe Rodgaustraße« an, ist bei Bildungsangeboten oder Kurzreisen dabei. Sie ist stolz, von den Bewohnern Rodgaustraße/Messelerstraße als Bewohnervertreterin zur Vorsitzenden des Arbeitskreises gewählt worden zu sein. Als solche nimmt sie an Versammlungen mit Vertretern von Stadt, Parteien und Gemeinwesenarbeit teil und verschafft den Anliegen der Bewohner Gehör. Sie legt Mängel im Wohnbau und nötige Sanierungsarbeiten dar und hat Anteil daran, dass nach zehnjähriger Anlaufzeit nun ein Gemeinschaftsbau für das Viertel realisiert wird.

Die Gelder für Bildungsangebote, Beratung und Kurse für Frauen in sozialen Brennpunkten wurden in den letzten Jahren kräftig zusammen gestrichen. »Auch die engagierte Frauenbildungsreferentin für Hessen, Martina Köbberich, ist von Koch gekündigt worden«, sagt Mirela Stepanic sichtlich verärgert. Dennoch setzt die einfühlsam und zugleich Ziel orientiert arbeitende Frau sich unverdrossen für Stärkung und Bildung der gesellschaftlich unterpriviligierten Mädchen und Frauen ein. Sie gab Starthilfe beim Aufbau einer Frauengruppe im Pallaswiesenviertel, denn sie weiß, wie wichtig es für die Frauen ist, Raum zum Erfahrungsaustausch zu haben, um kreative Prozesse in Gang zu bringen. Es ist spürbar, dass Stepanic den Frauen Achtung für ihre Bemühungen entgegen bringt und ihr Vertrauen gewonnen hat. Sie ist zuverlässige Beraterin und oft auch Vermittlerin an andere Gremien. »Aus der Frage nach den Geldern ergibt sich immer die Frage nach den Möglichkeiten«, sagt sie. Die Eigeninitiative der Bewohnerinnen ist immens und unbezahlbar. Stepanic lobt das Engagement der Frauenbeauftragten Barbara Akdeniz, die »die Probleme von Frauen, unabhängig vom sozialen Status, im Blick hat.« »Sie hat uns immer unterstützt«, sagt Stepanic.

Michelle hat ihre einjährige Tochter Rebecca-Kemi mitgebracht, die frohgemut vor sich hinplappert und über den Boden robbt. Der Vater des Kindes, mit dem Michelle zusammen lebt, ist Afrikaner. Sie hat ihn im »Kuckucksnest« kennen gelernt und dass sie ihn auch heiraten will, ist ausgemacht. Vor der Schwangerschaft hatte Michelle Arbeit bei »Maxi-Mail«, jetzt ist sie in Mutterschutz. Freund Stephen ist Reinigungskraft am Airport Frankfurt. Zwar lebt die kleine Familie in Weiterstadt, doch ist Michelles Anbindung an das Pallaswiesenviertel groß. Sie hat dort Familienangehörige, war von Anfang in der seit gut drei Jahren bestehenden Frauengruppe aktiv. »Frauen, die in Brennpunkten aufgewachsen sind, haben ihre Wurzeln dort«, sagt Mirela. Michelle hätte gern noch ein weiteres Kind, aber sie hat Bedenken. Wegen des Geldes. Dennoch geht es dem jungen Paar derzeit besser als Claudia. »Mit Sozialhilfe kamen wir eher rum«, sagt Claudia, »da gab es wenigstens Kleiderpauschale oder Geld für Schulbedarf der Kinder.« Die soziale Kontrolle in den Brennpunkten ist groß. Wer wenig hat, achtet darauf, dass der Nachbar nicht unrechtmäßig mehr bekommt. Armut macht auch unnachsichtig und schürt den Neid. Andererseits findet eine soziale Fürsorge untereinander statt, die in der Anonymität anderer Wohnviertel oft vermisst wird. Bei Todesfällen oder Krankheit, bei tragischen Geschicken unterschiedlichster Art, aber auch bei freudigen Ereignissen – sei es Heirat, Schulabschluss oder Geburt eines Kindes - werden Familienzusammenhalt und Nachbarschaftshilfe groß geschrieben.

Gesellschaftliche Probleme potenzieren sich in sozialen Brennpunkten. Ob es um Gewalt, Drogen, Schwangerschaft oder Arbeitslosigkeit geht – wo Armut herrscht, stehen diese Problemfelder an der Spitze. Deren Vorhandensein erweist sich als Definitionssache. »Gewalt?«, fragt Michelle. Nein, die gäbe es bei ihnen nicht. Nur einmal, so erinnert sie sich, habe der Vater gegen die Mutter die Hand erhoben: aus Sorge um die Tochter, die zu nachtschlafender Zeit noch draußen weilte. »Beziehungsfragen, Alkoholmissbrauch und Gewalt sind Thema in Einzelgesprächen«, sagt Mirela Stepanic. Ihre Aufgabe ist es, zuzuhören und weiter zu vermitteln an zuständige Beratungsstellen.

Das soziale Engagement der Brennpunktbewohnerinnen bringt Entwicklung auf den Weg. So haben auch die Männer im Gegenzug zu den Frauengruppen eine Männergruppe ins Leben gerufen. Mit Unterstützung des Sozialpädagogen Tobias Lauer wurde beispielsweise ein Referent zum Thema »Wann ist ein Mann ein Mann?« eingeladen. Auch Männerfreizeiten werden organisiert, manchmal gar mit Kindern. »Männerarbeit ist nicht so anerkannt – aber die Männer ziehen nach«, sagt Mirela Stepanic. Und letztendlich haben Frauen erst dann was von ihren emanzipatorischen Ansätzen, wenn auch Männer sich entwickeln. Gerade in Brennpunkten braucht es einen langen Atem für die vielen kleinen Schritte, die zur Veränderung der Lebensbedingungen beitragen.

Charlotte Martin

Die Frauengruppen »Rodgaustraße« und »Pallaswiesenviertel« freuen sich über jede noch so kleine Spende, die ihnen vielleicht 2006 trotz Haushaltskürzungen einen gemeinsamen Kurzurlaub ermöglicht.

Kontakt:
gemeinwesenarbeit@soziales- arheilgen.de

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