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In Frankreich

...zuerst Frau, dann Mutter...
In Deutschland umgekehrt...

Ein Interview mit der Französin Frédérique Dieter

 

Frédérique Dieter (36), geboren in der Bretagne, lebt seit 13 Jahren mit ihrem deutschen Mann und ihren zwei bilingualen Kindern im vorderen Odenwald. Die in Frankreich ausgebildete Französisch-Lehrerin unterrichtet seit mehreren Jahren an der Volkshochschule Darmstadt. In ihren Kursen (z.B. Conversation) versucht sie immer wieder, ihren SchülerInnen nicht nur die Feinheiten ihrer Muttersprache beizubringen, sondern auch aktuelle Ereignisse in Gesellschaft und Politik zu erklären und näher zu bringen.

 

Die französische Familienpolitik gilt in Europa als beispielhaft. Was sind die markanten Unterschiede im Vergleich zur deutschen?

Im Hinblick auf die materielle Betreuung ist es für eine Französin kein Problem, ein Kind auf die Welt zu bringen. Jedes Kind wird nach einem halben Jahr bzw. einem Jahr einen sicheren Platz in der Infrastruktur erhalten: Krippe, Hort, Vorschule bzw. Tagesmutter. Die offiziell vorhandenen Angebote ermöglichen es der Mutter, wieder in ihren Beruf einzusteigen und einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Das ist in Deutschland nicht oder nur schwer möglich.

In Frankreich gibt es im Unterschied zu Deutschland schon sehr früh eine Beihilfe für Kleinkinder. Ab wann wird diese gewährt?

Die Kleinkindbeihilfe (allocation familiale) wird vom fünften Schwangerschaftsmonat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes gezahlt. Die Hilfe ist unabhängig vom Lebensstandard der Familie; jede Familie bekommt die gleiche Summe. Darüber hinaus gibt es noch andere Hilfen, wie z.B. für Alleinerziehende (allocation de parent insolé) oder für Familien den Mutterschaftsurlaub. Dieser Urlaub wird als Lohnersatz in Höhe des Nettolohnes (des Lohnes der letzten drei Monate vor dem Urlaub) zusätzlich zur Kleinkindbeihilfe gezahlt. Seit 2002 gibt es noch den Vaterschaftsurlaub, das ist ein bezahlter Urlaub von 14 Tagen (in Deutschland: nur zwei Tage).

Es ist auch möglich, eine Tagesmutter in Anspruch zu nehmen?

Für Kinder unter sechs Jahren kann. zur Betreuung u.U. eine Tagesmutter eingesetzt werden. Die Kosten können von den Steuern abgesetzt werden.

Was versteht man in Frankreich unter Vorschulerziehung?

Die Kinder können ab zwei Jahren eine Vorschule besuchen. Es ist keine Pflicht, sondern die Kinder sind herzlich eingeladen, diese Schule zu besuchen. Der Unterricht wird von gut ausgebildeten Lehrern mit Unterstützung von Erzieherinnen gestaltet. Kinder zwischen zwei und sechs Jahren werden in der École maternelle nicht einfach den ganzen Tag »geparkt« oder betreut, sondern auch erzogen. Nachmittags ist Ruhezeit, in der die Kinder schlafen können. Vor und nach der Schule kann zusätzlich eine Betreuung in Anspruch genommen werden. Auf diese Weise können auch Frauen im Extremfall von morgens sieben bis abends sieben berufstätig sein. Es ist natürlich die Frage bei dieser Langzeitbetreuung, ob man sein Kind noch genügend sieht... Doch insgesamt gesehen ermöglicht das den Frauen, in der Gesellschaft einen Platz zu haben.

Welches Ansehen haben beruftätige Frauen in der Gesellschaft?

Eine berufstätige Mutter ist in Frankreich etwas ganz Normales. Sie arbeitet meist genauso viel wie ein Mann. In Deutschland ist das anders: eine Frau, die ein Kind bekommt, ist zuerst Mutter, dann Frau. In Frankreich ist es umgekehrt: sie ist erst Frau, dann Mutter. In der Liebe zu den Kindern gibt es in beiden Ländern keinen Unterschied. Die Beihilfen des Staates und der Gemeinde und die Betreuungshilfen ermöglichen den Müttern berufstätig zu sein. Ihre Berufstätigkeit wird nicht als schlecht oder hinderlich angesehen; die Mütter sind in der Gesellschaft wie im Beruf voll akzeptiert.

Familienpolitik als Gesellschafts- und Beschäftigungspolitik wird schon sehr lange betrieben. Seit wann?

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist Schule in Frankreich eine Pflichtveranstaltung. Jules Ferrys (Unterrichtsminister von 1879-83) berühmte Aussage lautet: L‘école est laique, gratuite et obligatoire, d.h. staatlich (ohne kirchlichen Einfluss), kostenlos und allgemein verbindlich. Dieser Ausspruch ist für mich sehr wichtig. Seit dieser Zeit gehen alle Kinder in die Vorschule. Meine eigene Großmutter hat schon Vollzeit gearbeitet, und ihre beiden Kinder, meine Mutter und meine Tante, waren im Alter von zwei Jahren schon in der Vorschule. Von dieser Zeit an waren/sind Frauen genauso in die Gesellschaft integriert bzw. akzeptiert wie Männer, sie arbeiten zumeist Vollzeit. Das ist normal. Auch während des Zweiten Weltkriegs gab es keine Regression vom Arbeitsmarkt. Seit einiger Zeit gibt es eine gewisse Tendenz, eine Mode, sich mehr Zeit für die Kinder zu nehmen. Aber längst nicht so viel wie in Deutschland.

Wie ist der gesellschaftliche Stellenwert von Kindern und Müttern - im Unterschied zu Deutschland?

In Deutschland werden die Kinder oft als kleine Könige behandelt, sie stehen im Vordergrund: »Wegen dir kann ich nicht arbeiten« oder »Dank dir kann ich nicht arbeiten«. In Frankreich ist das nicht so: die Eltern sind beide berufstätig und die Kinder passen sich diesem Leben an. Alles ist selbstverständlicher und natürlicher. In Frankreich kommt erst die Mutter, dann das Kind. Die Bezeichnung »Rabenmütter« ist in Frankreich ganz und gar unbekannt.

Das heißt die Erwerbstätigkeit von französischen Müttern ist nicht stigmatisiert, sondern selbstverständlicher Alltag. Selbst Frauen mit drei Kindern sind in aller Regel berufstätig.– Sind die Frauen und Mütter in Frankreich (dadurch) nicht überbeansprucht und gestresst?

Doch, ja. Bei vielen Frauen liegen die Nerven blank. Nach dem Arbeitstag, dem sozialen Leben, beginnt der Tag mit den Kindern, mit Hausaufgabenbetreuung, dann z.B. Sport oder Klavierunterricht. Berufstätige Frauen haben so zusammen mit dem Haushalt und der Zubereitung des großen, warmen Abendessens an einem Tag zwei Tagesprogramme zu absolvieren. Die Beanspruchung bzw. Müdigkeit der Französinnen ist größer als in Deutschland. Doch das ist der Preis der finanziellen Unabhängigkeit.

Wenn Du es Dir aussuchen könntest: Welches Familiensystem, welches Land gefiele Dir persönlich besser?

Das ist unterschiedlich. An manchen Tagen würde ich lieber in Frankreich leben, wenn ich denke, was mach‘ ich aus meinem Leben, wofür habe ich studiert. Hier dreht sich alles um meine Kinder und meinen Haushalt - und ein bisschen um meinen Job. Wäre ich in Frankreich, würde ich denken, ich traure der Zeit nach, wo ich auch Zeit für mich selbst hatte. Eine Mischung von beidem wäre ideal.

Das Interview führte Uschi Geiling.

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