Werden Sie auch eine

MATHILDE

 

Andrea Günter, Dr. phil., Dr. theol.,
geb. 1963, Philosophin und Theologin, arbeitet als freie Autorin, Lehrbeauftragte, Gastprofessorin und Referentin in der beruflichen Fort- und Weiterbildung, lebt in Freiburg im Breisgau. Wichtige Themen von ihr sind: Das Denken der Geschlechterdifferenz und die Politik der Differenz, Religion und Politik, Mutter Denken, Weltliebe

Foto: privat

Utopien & Frauen – Frauen & Utopien

Das Thema »Frau und Utopie« war ein wichtiges feministisches Thema Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre. Der Wunsch nach dem Ende des Patriarchats löste die Beschäftigung mit der möglichen Zukunft aus: Was soll in der Zukunft sein? Wie sollen das Gemeinwesen und die Geschlechterbeziehungen gestaltet werden? Welche neuen Formen von Geschlechtlichkeit und Sexualität sind denkbar? Traditionelle Utopien wurden auf ihre Geschlechterbilder hin befragt. Feministische, durchaus auch kritische Utopien wurden geschrieben, etwa »Planet der Habenichtse« von Ursula LeGuin, »Die Stunde der Magd« von Margret Atwood oder »Die Frau am Abgrund der Zeit« von Marge Piercy. Die Utopie ist kein Inhalt. Sie benennt eine Beziehung der Menschen zur Zukunft, die von dem Wunsch nach einem idealen Leben und Zusammenleben getragen wird.

Zwischenzeitlich scheint das Thema »Utopie« in der Geschlechterdiskussion zurückgetreten. Was können Gründe dafür sein? Hatte beispielsweise die Politikwissenschaftlerin Barbara Holland-Cunz 1988 ein Buch über Feministische Utopien veröffentlicht, weil sie diesen Ideen nachspüren wollte, die frauenbewegte Politik inspirieren und orientieren, veröffentlichte sie 1998 »Feministische Demokratietheorie«, 2000 »Frauenpolitische Chancen globaler Politik« und 2003 »Die alte neue Frauenfrage«. Das, was das Konzept »Utopie« angesprochen hatte, wurde in andere Konzepte übersetzt: »Geschlechterdemokratie«, »Zukunftswissenschaft«, , »Zukunftsbilder«, »Dekonstruktion«, »Queer«, »Geschlechtergerechtigkeit«, »Transformation der Geschlechterverhältnisse«. Allgemeingültige Entwürfe anderer, besserer Gesellschaften zu formulieren wird in Anbetracht der Vielfalt der Möglichkeiten, der Komplexität von Handlungsfeldern, der Offenheit der Geschichte und der Einsicht in die uneinholbare Differenz von Wunsch und Wirklichkeit nicht einfach nur schwieriger. Solche Entwürfe haben einen neuen Horizont bekommen: einen Begriff der Welt und des Zusammenlebens, in dem Pluralität und Handlungen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten so bedacht werden, dass sie in Kontinuität zueinander stehen, desgleichen Diskontinuitäten anzeigen, verschiedene Optionen ferner gleichberechtigt möglich sind.

Während des letzten Jahrzehnts sind viele feministische Denkerinnen in die präzise Rekonstruktion und Ausarbeitung von unterschiedlichen Lebensbereichen und Themenkomplexen eingestiegen. Die Ideen über eine neue Gestaltung des Zusammenlebens sind aus der fernen Zukunft in die Nähe gerückt, wodurch alte Bedürfnisse und Wünsche relevant bleiben. Viele Frauen sind überdies in die Arbeitswelt integriert oder haben konkrete Projekte in Angriff genommen. Sie suchen nach Antworten, die sie in der Gegenwart und nahen Zukunft handlungsfähig machen, so dass vorhandene Ziele realisiert und vorgegebene – »Globalisierung«–problematisiert werden. Unter diesem Vorzeichen taucht das Konzept der Utopie heute wieder auf.

Gerade die »eine«, andere Welt entwickeln zu wollen, in der Vielheit, Verschiedenheit und gelingende Gegenwart Leitbilder sind, führt dazu, Entwürfe einer besseren Gesellschaft mit allgemeingültigem, absolutem Anspruch abzulehnen. Utopien sind vielfältig verdächtig: der Verabsolutierung eines Standpunkts oder Systems, der Instrumentalisierung von Menschen und Mitteln zur Erreichung eines Ideals, des Totalitarismus als dafür notwendigem politischem Gefüge, der vereinfachenden polaren Entgegensetzung eines ganz Anderen zur Gegenwart als schlechter Ausgangslage, zugleich der Frauenfeindlichkeit. Bei traditionellen Utopien handelt es sich im Allgemeinen um Männerphantasien, weil in ihnen das bessere Leben von Männern imaginiert wird, während Frauen weiterhin traditionelle Rollen und Aufgaben zugeschrieben wurden. Frauen stehen darin dennoch für das Kontinuierliche im zukünftig ganz Anderen. Strukturell organisierten diese Utopien die Geschlechterverhältnisse ebenso wenig innovativ wie das Verhältnis von Körper und Technik. Dass es ganz anders sein soll, scheitert an dem, was Frauen verkörpern (sollen).

Heutige Utopien versprechen wie ehedem, dass sie mit Hilfe technischer Innovation unumstößliche Bedingungen menschlicher Natur überwinden, allem voran die Grenzen des Körpers. Die Beziehung zum Technischen wird dabei kaum dekonstruiert. Die Technik bleibt die maßgebliche Innovationskraft auch des Geschlechtlichen. Es gilt: mehr vom selben, auch mehr Instrumentalität. Ist die Utopie eine Struktur, die dies grundsätzlich zum Prinzip hat? Auch wenn es einzelnen Utopien nicht unbedingt gelingen mag, das perfekte Leben stringent auszuphantasieren: Kann all das, was zusammen mit den Frauen angefeindet war, durch das, das als Anderes zum Weiblichen das perfekte Leben versprach, tendenziell in einen Idealzustand versetzt werden?

Gerade die ungenügenden Frauen- und Geschlechterbilder in männlichen Utopien schienen einen wichtigen Teil des uneinlösbaren Rests der idealen Utopie eines ganz Anderen zu symbolisieren. Dieser Rest scheint durch die Entwürfe von Geschlechtertheorien des letzten Jahrzehnts jedoch eingeholt. »Das Geschlecht ist nichts anderes als eine Konstruktion« scheint zur Vervollkommnung der Utopie beizutragen. Haben zu Beginn der 70er Jahre einzelne Feministinnen auf die neuen Technologien gesetzt, um alle (!) Frauen potentiell vom Gebären zu befreien, ohne dass die menschliche Gattung ausstirbt, so verspricht der feministische Konstruktivismus, die Menschen letztlich von der Geschlechtlichkeit zu befreien und/oder jedem einzelnen alle Spielarten des Geschlechtlichen zu eröffnen, während in der Praxis die Nutzung der Reproduktionstechnologie zur Erfüllung des Kinderwunsches weitgehend akzeptiert ist, viele Frauen sich zudem die Mutterschaft neu aneignen wollen.

Durch die überkommene Verschränkung von Frau, Materie, Natur, Körper und Notwendigkeit versagen Utopien in einem grundlegenden Bereich: in der Gestaltung der unumstößlichen und nicht instrumentalisierbaren Bedingungen des menschlichen Lebens. Es gibt für Utopien keine Grenze, die nicht überwunden werden kann. Gleichzeitig folgt die Logik der Utopie einem dualistischen Schema von »schlecht« und »gut«: jetzt die schlechte Gegenwart, in der Zukunft die ganze andere, vollkommene Gesellschaft, zu dieser wieder das schlechte Gegenbeispiel als Warnung davor, dass die Verwirklichung der guten Idee scheitern kann.

Die Utopie hat sich zunehmend in Bereichsutopien aufgespalten. Den utopischen Gesamtentwurf gibt es kaum mehr. Hingegen regiert viel utopisches Bewusstsein alle möglichen Einzelbereiche. Diese schließen sich neu zusammen, wieder einmal wesentlich um den Körper zentriert: Medizin, Biologie, Neurologie, Psychologie, (Nano)Technologie zu Gentechnologie, Reproduktionsmedizin, Soziobiologie, »Lebenswissenschaften«, »Schönheits-» und »Jungheitsmedizin« usw. Menschheitsträume, insofern sie individualisierbare Träume eines technokratisch perfektionierten Körpers sind, scheinen erfüllbar. Außen vor bleibt auffälligerweise die Weiterentwicklung von Formen des Gemeinwesens. Hier sollen gegebenenfalls technologische Gehirnoptimierungen dazu beitragen, dass menschliche Kommunikation und Demokratie perfekt funktioniert. Der »Transhumanismus« strebt die Ersetzung des Menschen durch den perfekten Menschen zur Erlangung von Humanität an. Wenn auch in modifizierter Form: Wie in der westlichen Moderne wird die neue menschliche Natur des Einzelmenschen weiterhin zur Keimzelle des Sozialen erklärt, das Soziale selbst und seine Spielarten aber nicht als eine Erscheinungsweise der menschlichen Natur verstanden, die erneuert werden muss. Wie kann Demokratie erneuert werden? Diese Frage stellen sich Utopien nur selten. Die Demokratie zu beanspruchen scheint als politisches Ziel auszureichen.

Der Kampf zwischen Reichen, die sich die neusten Errungenschaften kaufen können, und den Armen, die oft nicht einmal von den Möglichkeiten unserer Gegenwart wissen, wird zumindest im Prozess der Annäherung an den utopischen Zustand verschärft. Daneben tobt der Kampf um die Zukunft zwischen den das Wissen um die Grenzen, Ambivalenzen und Konflikthaftigkeit des Lebens bewahrenden Ethikkommissionen, den großen Versprechungen der Geschäftsberichte von Großkonzernen und den Initiativen, die alle möglichen schönen Visionen einer technologisch humanisierten Menschheit verheißen. Dass zur Utopie unabdingbar die Ambivalenz gehört, – Thomas Morus hat der guten Zukunft sofort die Negativfolgen der»guten« Idee im Atemzug ein und derselben Erzählung entgegengestellt – wird gerne ausgespart. Statt die guten und schlechten Folgen als Ergebnis einer einzigen Bewegung zu erfassen, wird die Ambivalenz vielmehr zwischen vermeintlichen Traditionalisten und Fortschrittsmachern, zwischen richtigen und falschen Verwirklichern verteilt. Nicht das Ideal, ihre Verwirklichung scheint die Gretchenfrage.

Dabei ist die Ambivalenz schon am Anfang präsent. In unserer Gegenwart ist sie so lebendig wie eh und je. Wir heute leben in der Zeit der »Post«: der Postmoderne, der Postindustrialisierung, der Posttechnologie, der Postbiologie, des Postkapitalismus, der Postökonomie, des Postsozialstaats, des Postchristentums, des Postfeminismus, des Posthumanismus usw., vielleicht sogar der Postdemokratie. Mit »Post« ist dabei nicht gemeint, dass die Moderne, die Industrie, die Technologie, die Demokratie oder auch die Frauenfrage nicht länger vorhanden sind und unser Leben beeinflussen. Vielmehr markiert das »Post«, dass diese nicht länger die maßgeblichen, zukunftsweisenden Kräfte sind, auf die wir unsere Hoffnung setzen können. Sie sind entmythologisiert, aufgebraucht oder gar gescheitert. Außerdem zeigt diese Aufzählung: Eine Epoche hat nie auf nur eine Kraft gesetzt. Es waren mehrere, gleichzeitig.

Neue Kräfte–Plural!–sind vielleicht schon da. Vermutlich dauert es noch eine Weile, bis wir die eine oder andere sowie ihren Zusammenhang fassen können. Der gute Wille, sie zu entdecken oder zu entwickeln, steht oftmals in heimlicher Allianz mit der Machbarkeit. Wie bei so vielen anderen Entdeckungen auch wird es ein Zufall sein, der die neuen Kräfte fassen lässt. Die Weiterentwicklung der Technik ist dabei diejenige, die sich ein/e einzelne/r allein am einfachsten ausdenken kann. Vielleicht ist gerade die »Technik« die Metapher für die Komplexität, die verarbeitet und gestaltet werden muss. Die Hoffnung bleibt, sich auf die Kraft des Zufalls zu verlassen. Nein, besser: Kairos –das Spiel ist wie immer offen. Die Gelegenheit kann ergriffen werden. Wir können anfangen. Gibt es eine Utopie des Anfangens? Eine Utopie der Vielheit und Verschiedenheit? Eine Utopie der Ambivalenz? Eine Utopie des Mehr und Weniger? Eine Utopie des offenen Spiels? Eine Utopie der Gegenwart?

»Untersuchungen zu einer anderen Gegenwart« nennt die Schweizer Philosophin Brigitte Weishaupt ihren Beitrag zu »Frau – Realität und Utopie«. »Women included! Männer können die Welt verändern. Werden sie sie jedoch wieder aufbauen?« lautet der Titel der Ersten internationalen Frauen ohne Grenzen Konferenz 2003 in Wien. Ein wichtiger Anlass für die Frauen-Konferenz ist die Kritik von Edit Schlaffer und Cheryl Bernard an der Wiederbelebung der »Supermacht Mann« als »Ende der Vernunft« in der internationalen Politik. Der Männeressayist Dietrich Schwanitz wiederum erklärt Männer grundsätzlich zu Hordentieren und bescheinigt Frauen die Ambition der Zivilisation. Frauen sind damit beschäftigt, die Errungenschaften der Welt – die Zivilisation – alltäglich aufrechtzuerhalten und eine Praxis für ihre weltweite Geltung zu erfinden, so lassen sich diese Stellungnahmen zusammenbinden.

Der mögliche Verlust vielfältiger westlicher Errungenschaften der letzten etwa hundert (was das Soziale) oder vierzig Jahre (was das Politische und die Geschlechter betrifft) zusammen mit der Abnahme des öffentlich geteilten Bewusstseins weltweiter politischer Schuld in den westlichen Gesellschaften kann hoffnungsmüde machen. Der Irakkrieg, derzeit das Versagen des amerikanischen Staates bei der Hurricankatastrophe in New Orleans, die Verabschiedung der sozialen Marktwirtschaft, die Befürchtung eines Back lash in den Geschlechterbeziehungen, das Zusammenrücken des Westens, wenn arme Länder ihre berechtigten Ansprüche einbringen, oder auch die neue Zurichtung und Sexualisierung der Körper sind Zeichen dafür, dass das, was die westlichen Gesellschaften an Zivilisation, Kultur, Selbstkritik und Selbstveränderung errungen haben, gegenwärtig wieder zur Utopie erstarrt.

Die Wiederentdeckung überkommener Menschheitsträume – die Unsterblichkeit des Körpers und die Perfektion des Leben -, die seltsame Inhaltsleere und Schalheit, was die Zukunftsvorstellungen des Gesellschaftlichen und die Versprechungen neuer Technologien in den gegenwärtig formulierten Utopien betrifft, wird verständlich, wenn frau nicht an große neue, ganz andere Ideen und Welten denkt, sondern an die Irritation, die mit der Aufrechterhaltung des Erreichten und der Umsetzung des erkannten zu Erreichenden einhergeht. Was Utopie ist, verkehrt sich. Während die Utopie in der Tradition der gute Gegenentwurf zu einer schlechten Gegenwart zusammen mit der Warnung vor einer Fehlentwicklung war, zeigt das Kümmerliche der Utopien heute, dass in der Gegenwart und ihrer Vergangenheit – ohne sie idealisieren zu müssen–mehr Zukunftweisendes stecken kann als in ihren neuen alten Utopien: allem voran die Versicherungen und Ungewissheiten. Grenzen werden bleiben. Sie können sich als Mehrdeutigkeiten verändern.

Andrea Günter

_______

Kairos (griech.) meint den günstigen, entscheidenden Augenblick für etwas, wenn es gelingen soll. zurück nach oben

zurück

MATHILDE