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MATHILDE

Philemon und Baucis auf der Rosenhöhe

Ein Besuch bei der Schriftstellerin Gabriele Wohmann

Aus der blendenden Hitze dieses Vormittags trete ich ins kühle Vestibül des grünumflorten Hauses auf der Rosenhöhe. Eine dunkelhaarige Frau, elfenhaft schmal im erdfarbenen Leinenkleid, öffnet mir die Tür, lächelt: Gabriele Wohmann. Über die ins Untergeschoss führende Treppe im Hintergrund kommt Reiner Wohmann auf mich zu und streckt mir die Hand zur Begrüßung entgegen. Hinter der Brille nehmen mich wache Augen wohlwollend ins Visier. Diese beiden sind seit 1953 ein Paar. Vergeistigt, androgyn die eine, bodenständig der andere. Später an diesem Vormittag wird Reiner Wohmann, ehemaliger Oberstudienrat, sich von uns verabschieden, um den Einkauf im nahen Supermarkt zu erledigen. "Gib Acht!", wird Gabriele Wohmann ihm nachrufen, "und komm bald wieder!"

Als ginge es um einen "Abschied für länger" - wie ihr früher Roman von 1965 heißt. Und tatsächlich kann ja jeder Abschied ein sehr langer sein. Einer für immer. Zu diesem Zeitpunkt sind wir schon mitten in unserem Gespräch und haben die Vergänglichkeit gestreift. Nichts ist von Dauer. Wohmann sagt: "Die Frage, ob es noch dauert, die Erfahrung der Vergänglichkeit ist eine sehr frühe: Das Eis wird gegessen, der Genuss geht unwiderrufbar zu Ende. Die schöne Zirkusvorstellung - dauert sie noch? Auch sie hat ein Ende."

Ich habe nach ihrer zentralen Lektüre gefragt. Bekannt ist ihre Bewunderung für Tschechow und Goethe. "Søren Kierkegaard", frage ich, "kann man ihn als Ihr theoretisches Geländer bezeichnen?"

Und Gabriele Wohmann, mir schräg gegenüber im Ledersessel dieses angenehm schattigen Raumes mit der großen Bibliothek, antwortet rasch: "Meine große Liebe, Kierkegaard. Ich könnte mir nicht vorstellen, ohne dieses religiöse Geländer zu leben. Mein Vater war Theologe und ich hatte das Privileg mit einer riesigen Bibliothek im Haus aufzuwachsen. Diese große Verfügbarkeit der Literatur war natürlich prägend."

Und dieser Vater, so erzählt sie, war in Sorge, dass Kierkegaard seine Tochter zu sehr melancholisieren würde. " Aber Melancholie ist doch was Schönes", sagt Wohmann und sieht mich an. Und, Bezug nehmend auf das "religiöse Geländer Kierkegaard", fährt sie fort: "Atheisten sind fantasielos. Ich stelle mir gern vor, dass es dauert, irgendwie. Oder erst richtig anfängt."

Irdische Glücksmomente, so Wohmann, haben nichts Dauerhaftes. Aber zum Überleben braucht es gute Momente. Man muss sie sich schaffen. "Jeden Tag Akzente einbauen", sagt Wohmann, "zu bestimmter Zeit einen Kaffee trinken, eine Gauloise rauchen, was Gutes lesen."

Amüsiert entdecken wir die gemeinsame Lust an einer guten Zigarette und frönen ihr, verständigen uns am Rande des Gesprächs im trocken-heißen Darmstadt über die Vorliebe für regnerische Sommertage und Seeluft. So zerbrechlich Gabriele Wohmanns Erscheinung wirkt, so energisch und nach wie vor rebellisch sind ihre Aussagen. Sie ist eine unangepasste Zeitgenossin, eine die den Moden der Ablenkung und billigen Vergnügtheiten entgegen lebt. Die allgemeine "Missachtung des Kopfes", dieses Leben und Schreiben "aus dem Bauch heraus" ist ihr ein Gräuel, eine "verhasste Formulierung" zudem. - "Aus dem Bauch heraus", so Wohmann, "das hat mit Gedärmen zu tun und diesen ganzen Unappetitlichkeiten". Im Gegensatz zu den Kandidaten aus Günter Jauchs Rateshow im TV, die, nach ihren Wünschen befragt, über "Auto, Küche, Urlaub" selten hinauskommen, sagt Wohmann: "Ich bin froh, wenn ich noch Wünsche habe. Die Freiheit von Sorgen beispielsweise." Und ihren Körper, "diesen lästigen Leib" wäre sie gern los. Oder zumindest würde sie ihn nicht bemerken wollen, wie die Jugend, die kein Gebrechen kennt. Doch dann wehrt sie ab: "Genug davon! Wir machen hier ja nichts für die Apothekerrundschau!"

Gabriele Wohmann ist jetzt dreiundsiebzig Jahre. Schon ihren siebzigsten Geburtstag nannte sie "ein unerfreuliches Ereignis". Wir lassen das Thema Alter bleiben, nur einmal streifen wir es noch. Poetisch sozusagen. Und zwar als ich nach der Liebe frage. Ich zitiere ihr Gedicht, das den emotionalen Rausch im Zustand erhöhter hormoneller Produktion kühl und todernst in vier Zeilen unterbringt: "Im ersten Akt/ schicken wir den Regisseur weg./ Den letzten/ verschläft die Souffleuse."

Wohmann nickt, horcht den Worten nach. So ist es meistens - zuviel Gefühl und Sprachlosigkeit in einem. Zum Scheitern verurteilt. Doch dann, nach einem Augenblick des Schweigens, fügt sie an: "Warum soll es nicht mal klappen? Philemon und Baucis haben es ja auch geschafft."

Reiner und Gabriele Wohmann haben es auch geschafft. Der Genuss harmonischer Augenblicke gründet auf Lebenserfahrung. Im "Tempel" auf der Rosenhöhe steht seit Jahrzehnten einer für den anderen ein. Freilich nicht durchweg Händchen haltend auf einer Gartenbank im Grünen, sondern verbunden durch die Arbeit an und mit Literatur. Ich erlaube mir, Reiner Wohmann, den Umsorgenden und den Alltag Organisierenden, als einen "Hausmann" im besten Sinn zu bezeichnen, als einen, der seiner schreibenden Frau den Kopf frei hielt, lang bevor die emanzipatorische Bewegung den Begriff "Hausmann" überhaupt hervorbrachte. Gabriele Wohmann stimmt zu. Reiner Wohmann ist Lektor und Archivar der Autorin, zuständig für die oft mühsame literarische Sekundärarbeit. Und eben deshalb benutzte sie als Schriftstellerin auch nie ihren Geburtsnamen mit dem aparten französischen Klang (Gabriele Guyot), sondern sie entschied sich für `Wohmann`- "aus Fairness", wie sie sagt. Was Ovid in schöne Verse setzte - hier ist es Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit ungeteilt.

Wir wenden uns dem Wohmannschen Schreibstil zu. Ich konstatiere einen Tonwechsel in den achtziger Jahren. Wenn zuvor das Herbe, Bittere dominierte, so findet sich seitdem ein Sinn fürs Komische, eine Ironie Loriotscher Prägung. Gabriele Wohmann freut sich, lacht: Selten, sagt sie, bemerkten Rezensenten überhaupt diese Komik, die ihren Texten beim sprachlichen Sezieren der Kleinlichkeiten des Lebens innewohne. Sie gelte als die "Herbe, Bittere mit dem bösen Blick" - eine Frau in Deutschland mit sprachlicher Ironie, das sprenge wohl die Wahrnehmung der meisten Leser. Was der Auslöser für diesen Tonwechsel in ihrem Schreiben war, lässt Wohmann offen: "Ich bin nicht meine eigene Germanistin. Und überhaupt denke ich wenig über meine Texte nach."

Gabriele Wohmann ist eine namhafte Schriftstellerin und literarische Chronistin bürgerlicher Engstirnigkeit unserer Zeit. Sie erreicht mit ihren Büchern hohe Auflagen, doch war es ihr nie darum zu tun, die zweifelhaften Kriterien für die Dauerproduktion von Bestsellern zu erfüllen. Dafür ist der Spiegel, den sie uns mit ihrer Literatur vorhält, zu stark ausgeleuchtet. Lesend können wir unseren Unzulänglichkeiten bei Wohmann einfach nicht entkommen. Und zum zweiten: Wohmann hat nichts übrig für die Flut halb pornographischer Belletristik, die die Buchläden überschwemmt. Je mehr nackte Haut und triefende Säfte, desto besser verkauft sich ein Buch.

Wohmann zerlegt die Liebe mit messerscharfer Vernunft. Dabei lassen ihre Protagonisten Hemd und Hose an. Das allerdings ist heutzutage mehr denn je nicht verkaufsträchtig. Wirtschaftlich ergiebig schätzt mancher Verleger auch eine Autobiographie von Gabriele Wohmann ein. Doch die Autorin hält nichts von solchen "Indiskretionen". Ihr Blick ist empört. Denn dass Abstand gewahrt wird zwischen Ich und Du, das ist lebenswichtig für sie. Man spürt es, diese Notwendigkeit sich "zu verriegeln", Distanz zu haben zu Menschen und Geschehnissen. Sie sagt: "Nicht zu viel Erleben auf einmal - als Schriftsteller denkt man ja immer gleich an die Verwertbarkeit."

Nach wie vor ist Gabriele Wohmann ungeheuer produktiv, schreibt mehr, als ein Verlag drucken kann. Rechts von uns steht auf dem antiken Schreibtisch eine hinreißend altmodische Schreibmaschine. Das Blatt ist eingespannt, zur Hälfte beschrieben. Ich weiß, wenn ich gegangen bin, wird sie weiter schreiben. Sie braucht System, klare Ordnungen im Tageslauf.

Gleich kommt gewiss auch Reiner Wohmann vom Einkaufen zurück.

"Man muss sich irgendwo unterbringen", sagt Gabriele Wohmann. " Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht so was hätte wie meinen Beruf." Und der ist fraglos zugleich Berufung. "Viele Menschen", so Wohmann, "sterben an Langeweile. Es heißt dann 'Herzversagen' oder 'Krebs' - in Wahrheit ist es Langeweile". Dafür spricht auch dieses riesige Bedürfnis nach Ablenkung, nach Lärm und Geschwindigkeit.

Gabriele Wohmann und ihr Mann leben in einer Stille, die hellhörig macht. Als ob all die literarischen Stimmen der großen Bibliothek die Atmosphäre verdichten. Kierkegaard schrieb:

" Es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will." Gabriele Wohmann und ihr Mann haben diese Idee gefunden.

Charlotte Martin

Gabriele Wohmann wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a.:

  • Georg-Mackensen-Literaturpreis (1965),
  • Villa-Massimo-Stipendium (1966/67),
  • Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1971),
  • Bundesverdienstkreuz I. Klasse (1980),
  • Stadtschreiber-Literaturpreis des ZDF und der Stadt Mainz (1985),
  • Hessischer Kulturpreis (1988), Konrad-Adenauer-Preis (1992),
  • Großes Bundesverdienstkreuz (1998)

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