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MATHILDE

»Sind so kleine Hände...«

Erzieherin sein - zwischen Anspruch und Alltag

Von Lehrern, die ihren Beruf an den Nagel hängen, die kapitulieren vor Kindern und Jugendlichen, denen soziales Miteinander an Hirn und anderen Körperteilen vorbeigeht, hört man immer wieder. Genau diese Schulkinder kamen vor Jahr und Tag aus den Kindergärten dieses Landes!

Wie steht es mit uns, den Erzieherinnen?
Haben wir noch Mut? Gelingt es uns, einfühlungsfähig zu bleiben, AnsprechpartnerIn für die ganz Kleinen zu sein, für die, die gerade erst beginnen, Sprache zu erobern, Worte zu finden für Wunsch, Freude, Schmerz? Können wir das noch: Zuhören?
Ich habe mich gefragt, ob ich mir selber zuhöre. Ich habe mich zurückgezogen aus dem Alltag und zum »Kleinen Prinzen« und zu »Momo« gegriffen.

Ja, so sonderbar es klingen mag, ich denke, es gibt Einsichten und Geschichten von solcher Dichte und Wahrhaftigkeit, dass sie alle paar Jahre wieder zur Lektüre (der Erzieherinnen) gehören sollten - nicht nur »Leben mit aggressiven Kindern«, »ADS-Syndrom« und all die einschlägige Literatur für Pädagogen.
Hin und wieder sollten wir uns Zeit nehmen und zurückfinden zu den einfachen Worten, die an das Geheimnis des Menschseins rühren. Wie sonst wollen wir einen Weg zu den Herzen der Kinder finden, die uns von zunehmend gestressten, verkopften, überforderten Erwachsenen anvertraut werden?
Jede Erzieherin sollte wohl auch ein bisschen Märchenerzählerin sein. Unbedingt. Sie sollte sich selbst Zeit für Phantasien gönnen, sich immer mal wieder die Welt neu erträumen, um Fragen und Sehnsüchte der Kinder zu verstehen und ernst nehmen zu können. Erst die Aufmerksamkeit, die zu schenken wir in der Lage sind, befähigt ja das Kind, seine eigenen Bedürfnisse und Ziele zu verbalisieren und im Leben zu verfolgen...

Oft stehen wir neben uns, sind ausgebrannt, leer, müde. Erzieherin, denke ich immer wieder, ist auch ein politischer Beruf. Was aber will das im Kleinen, im Alltäglichen heißen? Zumindest ja doch dies: dass es in unserer Verantwortung liegt, uns zu informieren und zu interessieren, in welchem Land wir leben, die sozialen Zusammenhänge von Kindsein, Erwachsenwerden und damit auch ein Stück Bildungspolitik zu hinterfragen. Kindheit, wir wissen es, meint keine abgeschottete Glückseligkeit. Kinder werden groß - mitten unter uns. Und wir sehen sie krank werden an den Umweltbedingungen und an den sozialen Bedingungen die wir, die Erwachsenen, ihnen bieten. Oder sollte ich lieber schreiben: »die wir ihnen zumuten, antun«? Frustration, aggressives Agieren oder Gleichgültigkeit haben Ursachen, die außerhalb der Psyche des Kindes liegen; mit ihren Reaktionen halten Kinder und Jugendliche uns Erwachsenen einen Spiegel vor.

Kinder können nicht Verantwortung übernehmen in dem Maße, in dem es ihnen heute vielfach zugemutet wird - sei es, weil Eltern keine Zeit haben, sei es, weil sie sich aus fehlverstandener Liebe scheuen, Entscheidungen zu übernehmen, obwohl ihre in Richtung Emanzipation gedrillten Kinder deutlich machen, wie überfordert sie sind. Die Krise der Kleinfamilie ist sattsam bekannt - dass Papa und Mama ein Paar sind und es gar für immer und ewig bleiben, das ist selbst für die ganz Kleinen heutzutage schwerer glaubhaft als das Märchen vom Weihnachtsmann.
Was überhaupt könnte heute für die Kinder Sicherheit bedeuten, wenn wir ihnen nicht helfen, Sicherheit in sich selbst zu entwickeln? Und zuvor unserer selbst sicher sind! Mal ehrlich: wer weiß schon, wo er steht?
Es soll hier keinem Konservatismus das Wort geredet werden - meine Generation wuchs auf in der Gewissheit, dass der unauflösbare Kleinkrieg der elterlichen Ehe ewig toben wird - oder auch, dass das allwissende Auge eines strafenden Gottes lebenslang auf uns niederblicken wird! Um Himmels Willen kein Zurück bitte - aber über den Hof des Kindergartens sollten wir Erzieherinnen hinausschauen, historisch zurück und engagiert nach vorne. Fortbildungen lehren uns, genau hinzuschauen, Defizite der Kinder, Störungen, Auffälligkeiten frühzeitig zu erkennen. Was ist schon noch »normal«?

Wir schulen an den Kindern unseren Blick, sehen pädagogischen Bedarf, sind nach den Jahren des Laissez-faire gern wieder gefordert und fördern: natürlich »soft« und nicht nach dem ausrangierten funktionsorientierten Ansatz! Nein, wir bieten meditative Musik, autogenes Training, Psychomotorik und für die Eltern »Elterngespräche«. Und - nach PISA - zunehmend Englisch und doch wieder so was wie »Vorschule«, augenzwinkernd! Wir kennen selbstverständlich die kommunikativen Regeln: zuhören, ausreden lassen, wiederholen etc. Empfehlen können wir Frühberatungsstelle, Ergotherapie, Familientherapie und und und...
Ganz schön gut, oder? Sind Erzieherinnen 2005 etwa nicht auf dem Laufenden? (»Auf dem Laufenden«? Wie der Hamster im Rad?...) Manchmal wird es ganz still in mir. Ich schau mir die Anstrengungen an, die wir machen, schaue in unsere abgespannten Gesichter. Sind wir das, was wir tun? Steckt nicht ein großes Stück Hilflosigkeit hinter unserem pädagogisch fundierten, aber oft verkopften Tun? Es ist ein hartes Brot, authentisch zu bleiben in diesem Beruf. Unser gut gemeintes Bemühen, wenn es vom Kopf herkommt und uns nicht ganz ausfüllt bis hinunter in die Zehenspitzen, laugt uns selber aus und erreicht die Kinder nicht. Oder doch nur vordergründig. Ich frage mich oft, ob wir nicht zu wenig fühlen, uns zu viel vorschreiben lassen vom »Trend«, wir, die modernen, dynamischen Erzieherinnen. Sind wir »echt«? Bin ich »echt«? Kinder haben sehr feine Seismographen, Authentizität zu erkennen.

Ich möchte die Kinder in ihrer Verschiedenheit annehmen können, möchte nicht schon im Kopf pädagogisch »korrigieren«, bevor ich noch das Wesen des einzelnen Kindes erfasst habe. Und die lassen sich eben nicht »über einen Kamm scheren«, diese über 20 Kinder einer jeden Gruppe! Jedes einzelne Kind braucht Ermutigung, seine Eigenart entwickeln zu könne. Lange vor der Empfehlung, die Beratungsstelle, die Ergotherapeutin oder welche Fachkraft auch immer aufzusuchen, sehe ich hier meine Aufgabe als Erzieherin: Akzeptanz und Toleranz gegenüber jedem Kind aufzubringen, ihm Entwicklung zu ermöglichen und nicht es gruppengerecht zurechtzustutzen. Wenn ich als Erzieherin, Frau und Mutter nur ein wenig über den Kindergartenzaun hinausgucke, kann es mir nicht schwerfallen, zu erkennen, was Kinder vor allem brauchen: Wärme, Zuneigung, Aufmerksamkeit und nicht zuletzt genügend Raum und Zeit, sich selbst zu erkennen und auszuprobieren. Kann Kindergarten das leisten?

Manchmal habe ich Angst, wir, geschlagen mit schwachen Nerven in einer stressenden Umwelt, könnten viel zu häufig reglementieren, um Ruhe bitten, aus- und umsortieren, weiterleiten an Beratungsstellen und mit ehrgeizigen Zielen an den Kindern vorbeipädagogisieren. Nicht, dass wir es nicht gut meinten! Aber leben wir nicht selbst in problem- und angstbesetzter Zeit oft genug an uns vorbei? Wie wollen wir dann für andere sorgen - und gerade für Kinder?
Wie wollen wir Sorge tragen, wenn wir uns selbst aus den Augen verlieren - zugegeben, bedingt durch tausend Belastungen, Verführungen, Bedingungen unserer Zeit... Alte Frage, immer wieder würdig, gestellt zu werden: Ist Erziehung heute überhaupt noch möglich?

Zutiefst empathisch zu sein, sich einfühlen zu können, schien mir von jeher eine Grundbedingung für diesen Beruf zu sein. Das Nachdenken über meinen Beruf, über unser Arbeitsfeld, macht deutlich, wie wesentlich es ist, dass wir bei uns selbst beginnen, uns umtun, Herz und Kopf weiten - uns erinnern, was einzig das Ziel unserer Arbeit sein kann: nämlich den Kindern das Hineinwachsen in Autonomie zu ermöglichen, in Selbständigkeit und kreatives, lustvolles Dasein. Eines Tages soll es diesem Kind möglich sein, im kaum überschaubaren Pluralismus der Werte und Normen einen eigenen Standort zu bestimmen, der ihm ein befriedigendes und verantwortungsvolles Leben ermöglicht.
So fern nicht der Atomkrieg …
So fern nicht der Reaktorunfall …
So fern nicht Naturkatastrophe, Terrorismus, Krieg, Neue Armut …
So fern nicht die Sonne und der Mond und die Sterne versinken. Tief in mir jedenfalls glaube ich noch immer an Märchen, die wahr werden können. Genau wie die Kinder. Und anders soll es nicht sein.

Charlotte Martin

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