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MATHILDE

Die Bildung der Zukunft, hrsg.: Nelson Killius, Jürgen Kluge und Linda Reisch,
Frankfurt a.M. 2003, ca. 13,- €

 

 

Die deutsche Bildungsmisere.
PISA und die Folgen,
Ullstein TB, Berlin 2004,
ca. 7,95 EUR

 

Enja Riegel:
Schule kann gelingen!
Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen,
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2004,
ca. 17,90 EUR

Experten fordern Bildungsexplosion

Drei Bücher zum Schwerpunkt "Bildung"

Gerade seit der jüngst veröffentlichen PISA-Studie ist der breiten Öffentlichkeit noch klarer geworden, wie überholt und veraltet Methoden und Konzepte deutscher Schulen und Bildung sind. Deutschland kann im internationalen Wettbewerb kaum noch mithalten. Es gibt eine Reihe von Reformansätzen und Ideen; die Diskussion darüber dauert an. In Bayern und Hessen geht man schon eigene, heftig kritisierte Wege. Aus der Fülle der Nach-PISA-Literatur hat drei Bände ausgewählt.

 

Die Bildung der Zukunft

Im Taschenbuch: »Die Bildung der Zukunft« versuchen international renommierte Fachleute in drei großen Komplexen - »Bildungsziele«, »Reform der Bildungsinstitutionen«, »Anforderungen an Wirtschaft und Politik« Anworten auf zentrale Fragen zu geben.

  • Doof gebor‘n ist keiner
    Doof gebor‘n ist keiner
    Doof wird man gemacht
    Und wer behauptet, doof bleibt doof
    Der hat nicht nachgedacht...

Dieses Lied von Volker Ludwig stammt aus dem Jahr 1973. Es ist ein eindringlicher Appell an uns Erwachsene. Gleichzeitig ein Appell für mehr Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und für das Ausschöpfen aller Talente in unserer Gesellschaft. Ein Appell zur Verbesserung unseres Bildungssystems.

Drei Jahrzehnte sind seither vergangen, ohne dass viel passiert wäre; erst nach PISA reagierte die Politik und löste den sog. »Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz« für jedes Kind ein. Leider hat sich immer noch nicht die grundlegende Erkenntnis bei Experten wie Eltern ganz durchgesetzt, dass die frühkindliche Bildung vorentscheidend für die spätere Entwicklung ist. Denn: In früher Kindheit lernen Kinder das Lernen – und das für das ganze Leben.

Wissenschaftler fordern daher - erstens: Kinder brauchen Kinder - und qualifizierte Erzieher. D.h., es müssten 270.000 Krippen und 680.000 Ganztagsplätze geschaffen werden, um international übliche Versorgungsziele von 25 bzw. 50 Prozent bis zum Jahr 2006 zu erreichen. Gleichzeitig müsste der Beruf der Erzieherinnen und Erzieher aufgewertet und theoretisch fundamentiert werden. Künftig sollten diese zumindest an Fachhochschulen zum »Master of Education« mit Schwerpunkt »frühkindlicher Pädagogik« geführt werden. Als zweites Ziel soll daher die »Professionalisierung des Systems Schule« vorangetrieben werden. Der Physiker und Unternehmensberater Kluge hat diese Forderung in die Ziele »Konsequente Qualitätsmessung und Qualitätssicherung« umformuliert:

»Flächendeckende und jährliche Messungen von Schülerleistungen: Zur Nutzung des Wettbewerbs der Chancengleichheit auch zwischen den Bundesländern ist es erforderlich, sich zunächst länderübergreifend auf knappe Lernziele und Meilensteine zu einigen und die Messung gemeinsam zu konzipieren. Der KMK-Beschluss zur Festlegung nationaler Bildungsstandards weist in diese – richtige – Richtung, geht aber nicht weit genug. Wir schlagen vor, jährlich einheitliche Tests in den Kernfeldern Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen für alle Schulen flächendeckend einzuführen...«

Hinzukommen müssen – zum anderen: »Ergänzende Inspektionen der Schulen vor Ort: Die Messung der Schülerleistung gibt der einzelnen Schule noch keine hinreichenden Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten. Folglich sollten Schulen regelmäßig vor Ort beurteilt werden.«

Das dritte Ziel lautet: Mehr Freiräume für die Bildungsinstitutionen. Im Fall »Schule« bedeutet das, dieser mehr Autonomie zu geben. Die Lehrer sollen selbst entscheiden, mit welchen Methoden und Inhalten sie die vorgegebenen Lernziele erreichen wollen. Ferner müsste die Schulleitung Personalentscheidungen und -entlohnungen selbständig treffen, weitgehende Budgetfreiheit haben und Leistungsanreize für Lehrer setzen können. Ein Vorteil dieses Buches: es beziffert auch die Kosten für die Erreichung der genannten Ziele. Es werden heiße Eisen angefasst und unpopuläre Vorschläge zu Kosteneinsparungen gemacht. Mitherausgeber Kluge wörtlich:

»Ich bin mir sicher, dass wir auch bei den Schulbehörden einsparen können. Wenn wir zentral einige wenige fixe Bildungsstandards setzen, müssen wir uns dann wirklich 16mal in Deutschland eine Schulaufsichtsbehörde leisten? Ein Japaner würde sagen, das ist alles Muda ... Verschwendung.«

Konrad Adam, Die deutsche Bildungsmisere

Der Publizist und ehemaliger Feuilletonredakteur der FAZ Konrad Adam verteilt seine Kritik in politische wie gesellschaftliche Richtungen. Für ihn, der alte Sprachen, Geschichte und Rechtswissenschaften studiert hat, erzählen die Untersuchungsergebnisse von PISA »nur etwas von den Voraussetzungen von Bildung, aber weniger über diese selbst«. ... »Wer an einem anspruchsvollen, also nicht schrankenlos erweiterten Kulturbegriff festhalten will, wird PISA interessant, aber nicht maßgeblich finden.«

Auch Adam betont, dass alles Entscheidende in den ersten Lebensjahren geschieht: Die Liebe zu kulturellen Dingen wie Sprache und Musik bilde sich früh heraus - » früh oder nie.« Doch er zieht nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis, er verweist lediglich auf die zentrale Rolle des Elternhauses bei der Früherziehung und der Begabtenförderung. Konrad Adam erkennt zwar die Experten-Meinung an, wonach das Sprachfenster sich zwischen dem fünften und achten Lebensjahr schließt. Er verkennt aber Bedeutung und Aufgabe, die Kindergärten heute vermehrt übernehmen müssen, insbesondere um Ausländer- bzw. Migrantenkinder besser als durch PISA ermittelt, integrieren zu können. Dass man für diese anspruchsvollere Aufgabe entschieden besser ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher benötigt und sich angesichts der drohenden »Seniorenrepublik« um jedes Kind sehr früh bemühen muss, ist für ihn kein Thema.

Adam sieht das Thema »Demografie« ganz anders: Er fordert eine »Politik für Kinder«:
»Er (der Staat) hätte sich nicht nur um Schulen und Hochschulen, um Vorschulen und Kindergärten zu kümmern, sondern mit einer vorausschauenden Familien- und Bevölkerungspolitik darauf hinzuwirken, dass Kinder da sind, die man erziehen und bilden kann. Bisher hat der Staat wenig getan, um in dieser Richtung voranzukommen und jedenfalls die gröbsten Nachteile zu beseitigen, unter denen die Familie leidet.«
Warum der bei jungen Paaren lebendige Kinderwunsch oft nicht verwirklicht wird, liegt nach Ansicht des Autors vor allem an der ungerechten Umverteilung, »die der einen Generation nimmt, was sie der anderen zusteckt...«
Im Kapitel »Viele falsche Freunde« befasst sich Adam mit dem Gesamtschul- Konzept, das er, wie nicht anders zu erwarten, als gescheitert ansieht. Gesamtschule ist für ihn »Sammelstelle für alle möglichen Problemkinder.« Für ihn ist Bildung im Humboldtschen Sinne wichtig. Deshalb hält er auch das (humanistische) Gymnasium für die wichtigste öffentliche Einrichtung, die Einfluss nehmen kann auf Bildung. Die Einmischung des Staates hält er hingegen für störend; dieser soll sich möglichst aus allem heraushalten. Zumal Erziehung Sache der Eltern sei.

Konrad Adam ist für mehr Freiheit an den Schulen, für die Autonomie der Wissenschaften, für die Einführung von Studiengebühren, für private Schulen und Hochschulen. Private Hochschulen z.B. praktizierten bzw. verlangten, was öffentliche Einrichtungen nicht böten. Von der Ganztagsbetreuung für Kinder hält er wiederum gar nichts: »Die Lobbys, die nach flächendeckender Ganztagsbetreuung für Kinder von null bis sechzehn Jahren verlangen, sind entweder ahnungslos oder unverantwortlich oder beides.« Und an andere Stelle schreibt er: »Die Forderung nach Ganztagsbetreuung ... ist etwas für Dienstleistungspolitiker und berufstätige Eltern; im Interesse der Kinder liegt sie in aller Regel nicht.« Eben doch! Denn neben den privilegierten Kindern, deren Eltern sich z.B. zusätzlichen Musikunterricht und Nachhilfe-Unterricht leisten können, gibt es viele Kinder, die, wiewohl sozial benachteiligt, auch förderungswürdig sind.

Konrad Adam hat ein streitbares Buch vorgelegt, das auch konservativen Bildungsexperten und -Politikern einiges abverlangt.

 

Enja Riegel, Schulde kann gelingen

Mit innovativen Methoden, viel Kreativität und Disziplin hat Enja Riegel (»Schule kann gelingen!«) eine ungewöhnliche Struktur für ihre Schule entwickelt: es ist ein Beispiel, wie Schule sein kann und soll oder anders: wie Schüler mit Spaß und Freude »für das Leben lernen«.

Weil Enja Riegel seinerzeit die wichtige 5. und 6. Klasse nicht an eine Gesamtschule abgeben wollte, entschloss sie sich, trotz Tränen von Kolleginnen, aus ihrem verstaubten Gymnasium eine Gesamtschule zu machen. Dabei hat sie die Schule von Grund auf erneuert und viel vom Grundschulkonzept und anderen Reformschulen abgeschaut. Ihre Vision: eine Schule für alle Kinder, damit keines um seine Zugehörigkeit bangen muss. So entstand eine integrierte Gesamtschule mit spezieller Prägung. Beim PISA-Test hat sie mit großem Abstand als beste deutsche Schule abgeschnitten.

Im Kapitel »Wider die Einzelkämpfer hinter verschlossenen Türen« beschreibt Anja Riegel eine ihrer wichtigsten Änderungen: Arbeit und Arbeitsplatz ihrer Lehrer. Da sie den ständigen, nach zwei Jahren erfolgenden Lehrerwechsel für eines der Grundübel an Schulen hält und Lehrer zu viele Schüler unterrichten müssen, schuf sie eine Teamstruktur. Für jeden Jahrgang mit 100 Schülern bilden 8 bis 10 Lehrer ein Team. Diese neue Struktur braucht natürlich Lehrer, die über ihre Fächer hinaus fachfremden Unterricht erteilen.
Bei einem Vorstellungsgespräch wurde ein Physik- und Sozialkunde-Gymnasiallehrer gefragt, was er noch könne: »Der junge Kollege erzählt von Tätigkeiten, die er neben dem Studium mit Lust und Leidenschaft betrieben hatte. Er sei Bergsteiger, außerdem könne er gut kochen, weil er in einer Hotelküche gejobbt hatte, und mit einigen Freunden habe er es sich zum Hobby gemacht, Liegefahrräder zu bauen. Ob er sich auch noch für andere Unterrichtsfächer interessiere, wird er gefragt. Er habe schon immer ein Faible für Mathematik und Geschichte gehabt, antwortet er. Er wird ins Team, das den neuen Jahrgang 5 übernimmt, aufgenommen. Als Klassenlehrer wird er in seiner Klasse in vier Fächern mit insgesamt 14 Stunden eingesetzt. Außerdem unterrichtet er Mathematik und Naturwissenschaften in einer Parallelklasse. Mit dem Rest seiner Stunden arbeitet er in der Fahrradwerkstatt.« Fachfremde Lehrer werden im Team natürlich nicht allein gelassen: Es gibt immer einen ausgewiesenen Experten, der die fachliche Kompetenz sicherstellt. Für die Kinder bedeutet der wegfallende Wechsel Verlässlichkeit und Kontinuität, für die Lehrer hingegen Mehrarbeit - z.B. für Teamsitzungen, Unterrichtsvorbereitungen und Absprachen von fächerübergreifenden Projekten. Das stört nach Aussagen der Autorin niemanden; im Gegenteil: die Lehrer arbeiten gern mit. Natürlich hat diese Struktur auch räumliche Konsequenzen: jedes Team hat einen eigenen Bereich, mit großem Raum für Schülertreffs und offene Klassen; oft arbeiten die Schüler auch allein und helfen sich untereinander. Erziehung zum selbständigen Arbeiten ist das Ziel.

Zur neuen Arbeitsweise der Schule gehört auch der halbjährlich stattfindende fächer-übergreifende Projektunterricht ab der 5. Klasse. Unter Beteiligung der Schüler werden die Projekte und Experten ausgesucht, z.B. beim Projekt »Wald« ... ein Förster. »Eine Woche lang leben sie (die Schüler) im Forsthaus, arbeiten mit dem Förster, fällen kleine Bäume, setzen Stecklinge, legen Wege an oder reparieren Zäune. Es gibt keine Arbeiten, an denen die Schüler nicht beteiligt werden, sei es beim Bau eines Hochsitzes oder beim Beobachten von Vögeln. Sie müssen hart arbeiten, auch wenn es regnet oder unangenehm heiß ist. Abends müssen sie Tagebuch schreiben, Gelerntes festhalten, Gesammeltes sortieren. Wenn die Klasse dann in die Schule zurückkehrt, wird das, was sie im Wald gelernt haben, aufbereitet. Einige ordnen die mitgebrachten Funde und beschriften sie, andere bereiten eine Präsentation für die Eltern vor, und alle schreiben eine Facharbeit über ein Spezialthema, das sie sich ausgesucht haben«.

Enja Riegel legt Wert darauf, dass Projektwochen »etwas mit Spaß zu tun haben und mit Luxus«, sie sind daher säuberlich vom Unterrichtsalltag mit geordnetem Fachlernen zu trennen. Ab der 6. Klasse beginnen dann die Praktika, z.B. im Kindergarten, im Betrieb, im hauseigenen Theater oder, als Sozialpraktikum, in einer Görlitzer Behindertenschule.
Theater steht im Zentrum der Helene-Lange-Schule: In der 9. Klasse z.B. spielt jeder Schüler 8 Wochen lang Theater zusammen mit einem professionellen Regisseur, z.T. parallel zum Unterricht, auch an Nachmittagen und in den Ferien. »Der Gewinn, den Schüler haben, die intensiv Theater spielen, das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, den gelasseneren Umgang mit Herausforderungen im Alltag, wird oft erst ein, zwei Jahre später deutlich – auch bei den schulischen Leistungen«.

Natürlich braucht man für solche Programme Geld. Anja Riegel hatte die geniale Idee, ihre Schule als Wirtschaftsunternehmen zu behandeln: so putzen die Schüler z.B. ihre Klassenräume selber. Das auf diese Weise gesparte Geld wird z.B. für die Theaterwerkstatt bzw. für das Honorar des Regisseurs verwendet. Auch die »Schule der Gastlichkeit«, wo Schüler unter fachkundiger Leitung servieren, dekorieren und kochen lernen, nimmt Geld ein, wenn sie Gäste bewirtet.

Enja Riegel, inzwischen pensioniert, zeigt in ihrem Buch, wie eine schülergerechte Schule mit eigenen und externen Reform-Ideen, z.B. auch mit Fahne und Aufnahmeritualen, Kindern und Jugendlichen ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl vermittelt und sie zu Leistungen anspornt. So wie die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden von ihr geführt wurde, kann Schule tatsächlich gelingen.

Ursula Geiling

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