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Schule lebensnah?

Macht der Schulalltag in Darmstadt noch Spaß?

»Wenn der Hauptzweck der Schule der sein soll, einerseits den Fortbestand, ja das Wachstum der Wirtschaft zu sichern, andererseits auf die wirtschaftende Welt, auf Beruf und Karriere vorzubereiten, ich würde ihr - da ich sie nicht abschaffen kann - auf der Stelle den Rücken kehren.«

Hartmut von Hentig, Wegbereiter der Bildungsreform in den 60er und 70er Jahren.

Die Bildung unserer Kinder ist unsere wichtigste Ressource - gesellschaftlich und wirtschaftlich. Unser Bildungssystem aber steht derzeit in der Kritik: Von Verrottung ist die Rede, vom Sparen auf Kosten unserer Kinder, von Verdummung. Schuldiskussionen wurden schon immer geführt. Seit Deutschland aber im internationalen Vergleich der PISA-Studien auf einem der hinteren Plätze landete, bekamen die Diskussionen einen neuen Schub und das nicht nur, weil nun eine größere Angst um unsere Bildungszukunft um sich greift, sondern auch weil die gelebte Schulpraxis viele unbefriedigte Gemüter hervorbringt: Unterrichtsausfall, schlechte Betreuungsmöglichkeiten, ein unflexibles System mit überaltertem Lehrkörper und eine marode Ausstattung rufen sowohl bei LehrerInnen als auch bei Eltern und Kindern Proteste hervor. Ein Reformschub jagt den nächsten, einige davon wurden bereits umgesetzt, andere stehen an oder sind in der Planung.

Doch wo treibt die Entwicklung hin? Wie erleben unsere LehrerInnen und Kinder in Darmstadt die Veränderungen in ihrem täglichen Lernumfeld? Kann die staatliche Pflichtschule überhaupt noch optimal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten, oder sollte sie diese Aufgabe abgeben, wie der Autor des obigen Zitates fordert. Die persönliche und die politische Bildung stehen heute in der Schule im Vordergrund. Die praktische - von Hentig nennt sie »Wirtschaftsstandort-Deutschland-Bildung« - kommt zu kurz. Kommt Schule tatsächlich nicht weiter?

»Wir haben zwar keinen Notstand«, sagt Werner Reith, Schulleiter des Abendgymnasiums in Darmstadt, bei dem der Zulauf an SchülerInnen ungebrochen ist. »Doch wir brauchen künftig klare Bildungsstandards an Nahtstellen und am Ende der Bildungsgänge und individuelle Förderung«, so seine Forderung.

»Die aktuelle Diskussion hat zunächst einmal keinerlei Einfluss auf die derzeitige Schulpraxis«, sagt auch Direktor Knut Gutmann von der Mornewegschule in Darmstadt. »Wie schon seit 35 Jahren werden immer wieder dieselben Erkenntnisse kolportiert und diskutiert. In den Schulen selbst umgesetzt wird dabei nur sehr wenig bis gar nichts.«

Die integrierte Gesamtschule setze auf das Konzept des individuellen Lernens und der Förderung individueller Fähigkeiten, doch auf diesem Weg seien bis zum jetzigen Zeitpunkt höchstens die ersten Schritte getan. »Es kostet sehr viel Arbeit und Mühe, den SchülerInnen ein Angebot zu machen, das ihrer Lebenswirklichkeit und der ihrer Familien tatsächlich noch Rechnung trägt«, so Gutmann weiter, der in den Reformen lediglich eine marginale Unterstützung sieht, größtenteils aber werde mit ihnen an den tatsächlichen Erfordernissen vorbeigearbeitet. »Es muss grundsätzlich die Art des Angebots diskutiert werden, das Fördern der einzelnen Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund gerückt werden und nicht die Selektion. Selektion und Förderung sind Gegenpole und schließen einander aus.«

Natürlich gibt es Konzepte an Schulen, wo engagierte PädagogInnen in die erforderliche Richtung arbeiten. Aber sie sind nach wie vor von der Initiative Einzelner abhängig. »Unsere Schule«, so Bernd Dietrich, Direktor der Gutenbergschule, einer kooperativen Gesamtschule in Eberstadt, »hat dank der städtischen Initiative »Familienfreundliche Schule« seit einem Jahr Ganztagscharakter, das heißt, dass die SchülerInnen zusätzlich zum Unterricht Mittagessen angeboten bekommen, sowie zahlreiche Betreuungs-, Förder- und Hobbyangebote wahrnehmen können. Durch das Soziale Lernen, das wir als Kulturtechnik für die Klassen fünf bis sieben verpflichtend im Stundenplan verankert haben, haben sich Disziplin und Umgangston an unserer Schule sehr verbessert. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Mitarbeit der Schule an dem Bundesprojekt »Demokratie lernen«, in dem es um Streitschlichtung, Mitarbeit und transparente Strukturen an der Schule geht.«

Jede Schule in Darmstadt, das konnten wir positiv feststellen, ist sehr bemüht, mit all ihren Kräften Konzepte und Möglichkeiten für eine Verbesserung der Lernumgebung zu erarbeiten. Doch all diesem Engagement stehen die Vorgaben vom Land kontraproduktiv gegenüber. Das verschleißt selbst die willigsten MitarbeiterInnen.

»Die vom Land Hessen durchgeführte Arbeitszeiterhöhung ist grundsätzlich kontraproduktiv, weil zahlreiche Aktivitäten der LehrerInnen ohnehin schon zusätzlich waren. Sie ist außerdem im höchsten Maß unpraktikabel und zeitaufwendig, weil sich Stundenverpflichtungen bis in die zweite Stelle hinter dem Komma errechnen«. Ein Schulgesetz, das gut gewachsene Gesamtschultrukturen zerstöre, weil die Stundentafeln der einzelnen Schulformen nicht mehr zusammen passen, neue Lehrpläne und Zentralarbeiten zwängen die Schulen in ein enges Korsett. »Mit Sorge schauen viele Kollegien auf die geplanten Ranking-Veröffentlichungen«, so das Fazit von Bernd Dietrich. »Durch die Politik der Landesregierung ist in der Schule großer Zorn entstanden. Die LehrerInnen sollen durch Mehrarbeit nicht nur nötige gesellschaftliche Entwicklungen durch schulische Angebote auffangen, sondern auch noch die Inkompetenz der Politiker und deren schulpolitische Entscheidungen irgendwie wettmachen. Wenn demnächst die eigene Schule durch total blödsinnige Ranglisten möglicherweise auch noch diffamiert wird, muss man für das Engagement der ArbeitnehmerInnen an Schulen schwarz sehen.«

Zur Zeit gibt es, was die Lehrkräfte betrifft, beides, Mangel und Überfluss. Schätzungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zufolge haben 30.000 ausgebildete PädagogInnen in Deutschland keinen Job, jedenfalls nicht an einer Schule. Gleichzeitig sind viele Schulen auf der händeringenden Suche nach geeigneten LehrerInnen. So werden beispiels-weise an der ADS in Weiterstadt vor allem im Hauptschulzweig fachfremde Lehrkräfte eingeteilt, weil es auf dem »Markt« die geeignete Fächerkombi-nation nicht gibt. »Die Person LehrerIn ist überaus wichtig«, sagt der dortige Direktor Dr. Walter Schnitzspan. »Nur mit engagierten Personen erreichen wir viel.« Auch er steht den Reformen eher kritisch gegenüber. »Natürlich spürt man die Veränderungen der neuen Output-Steuerung durch politische Vorgaben im Unterricht. Eine Stunde Mehrarbeit, die Entwicklung des Schulprogramms und die neuen Abschlussprüfungen machen sich bemerkbar. Doch ob es sich dabei tatsächlich um Qualität im Sinne von individueller Bildung handelt, ist fraglich. Es ist eher die Diskussion Individualität gegen Normierung. Eine Art Platzierungskampf findet statt, wir wissen, wer in welchem Jahrgang auf welchem Platz in Mathematik abgeschnitten hat, doch ob ein solches externes Qualitätssicherungsgesetz auch interne Qualitätssicherung für das Lernumfeld der einzelnen SchülerInnen bedeutet, ist fraglich. Entsprechend wird auch die ReferendarInnenausbildung neu geordnet: in Bezug auf die Inhalte, nicht in Bezug auf die Ausbildungsqualität. Das widerspricht aber wiederum dem Anspruch an qualifizierte PädagogInnen.«

Diese Fragen beschäftigen auch das Kollegium, und das zu Recht. Sehr schnell wird ein negatives Bild der Person LehrerIn gemalt, doch dieses Bild wird der Mehrzahl der Unterrichtenden nicht gerecht. Erhebungen ergaben, dass sie - Ferien und früher Unterrichtsschluss mitgerechnet - im Schnitt sogar mehr arbeiten als andere Angehörige des öffentlichen Dienstes. Natürlich sagt das noch nichts über die Qualität ihres Schaffens aus. Doch auch hier liegt eine große Diskrepanz zwischen den Anforderungen der realen Schulumwelt und der Möglichkeit der Weiterbildung. Neue pädagogische Erkenntnisse und Unterrichtsmethoden schaffen jedoch nur auf dem Weiter-bildungsweg Einzug in den Klassenraum. Dafür müssen LehrerInnen freigestellt werden, das bedeutet aber auch Unterrichtsausfall.

Die Lebenswelt unserer Kinder dreht sich schnell, die Schule hinkt hinterher, Schulpolitik wird nach Kassenlage betrieben, Bedarf ist das, was das Budget hergibt. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln hat sich das Verhältnis SchülerIn pro LehrerIn seit 1990 um zehn Prozent erhöht - heißt: verschlechtert. Die offiziellen Unterrichtsstunden sind in fast allen Bun-desländern gesunken, besonders schlimm in Hessen. Hier erreichte die Unterrichtsversorgung trotz aller Garantieversprechen zeitweise nur 90 Prozent.

»In den 30 Jahren, in denen ich unterrichte, hat sich vieles verändert«, sagt die Lehrerin einer Eberstädter Grundschule. »Der Stellenwert von Bildung innerhalb der Familien hat nachgelassen. Eltern haben für ihre Kinder weniger Zeit. Beruf, Bezie-hungsprobleme und Freizeitorga-nisation gehen oft vor. ... Es gibt viele Kinder, die mit einem großen emotionalen Defizit in die Schule kommen. Sie trauen sich wenig zu, müssen ständig motiviert werden und können oft nicht mehr selbstständig mit Konflikten umgehen. Diese Kinder schreien mit ihrem auffälligen Verhalten oft pausenlos um Hilfe. Mittlerweile zählt es zu den vorrangigen Aufgaben der LehrerInnen im Anfangsunterricht, Schüler zu sozialisieren und »aufnahmefähig« zu machen. Die Konzentration und damit auch die »Aufnahmekapazität« hat sehr nachgelassen. Vom Stoffvolumen her können wir nicht mehr das vermitteln, was wir noch vor zehn Jahren vermitteln konnten. Leider sind in den letzten Jahren sämtliche Förderstunden gekürzt worden, die dringend notwendig wären. An deren Stelle sind Stunden für Fremdsprachen gerückt. Das Gros der SchülerInnen beherrscht mit Mühe die eigene Muttersprache!«

Dass diese Probleme nicht allein den Familien angelastet werden können, sieht diese Lehrerin auch: »Unser Staat gibt meiner Meinung nach viel zu wenig Geld für die Ganztagesbetreuung von Kindern aus. Es fehlten sinnvolle Konzepte und das nötige Geld für »wirkliche« Ganztagsschulen. Öffentliche Schulen machen im ganzen Land den Eindruck von heruntergekommenen Bauruinen mit Sperrmülleinrichtungen - auch das trägt nicht zu einem positiven Lernklima bei.«

Die Überalterung des Kollegiums ist wohl an allen Schulen ein Problem. »Es rücken nur ganz wenige junge KollegInnen nach, die frischen Wind in die Schulen bringen könnten. Unser Kollegium besteht aus zwölf Frauen. Davon sind sieben über 50 Jahre alt, drei über 40 Jahre und nur zwei um die 30. Eine Kollegin muss zwei Klassen führen, weil durch die Pflichtstundenerhöhung keine neuen Lehrerstellen geschaffen wurden.«

Unser modernes Leben ist von ständiger Veränderung geprägt, das wirkt sich auch in der Schule aus. »Das ist ein fließender Prozess, der viel mit dem Zeitgeist zusammenhängt. SchülerInnen interessieren sich grundsätzlich für neue Dinge, und in unserer Zeit steht der Konsum an oberster Stelle. Zum Beispiel sind neue Handys grundsätzlich interessant, viele haben die neuesten. Da wird viel Geld ausgegeben. Vor zehn Jahren waren Statusklamotten der Renner. Tatoos waren vor fünf Jahren in«, sagt Robert Lösch. Lehrer an der Albrecht-Dürer-Schule in Weiterstadt. »Als Klassenlehrer im Hauptschulbereich bin ich mit meinen Tätigkeiten und dem Umfeld zufrieden. Dass das kein einfaches Arbeiten ist, ist sicherlich vorstellbar. Aber in der Hauptschule findet sich der größte Anteil an Pädagogik, hier wird sie tagtäglich umgesetzt, mehr als in den anderen Schulzweigen.«

LehrerInnen und SchülerInnen trennen nicht nur Lebensjahre, sondern auch Lebenswelten. Kaum jemals zuvor waren PädagogInnen so weit von der Gedanken- und Gefühlswelt ihrer SchülerInnen entfernt, wie heute. Die In-Kreisläufe der Jugendlichen drehen sich so schnell, dass Erwachsene kaum mithalten können. Und selbst wenn sie sich abmühen mitzureden - bei einem über 50jährigen wirkt das schnell komisch. Und trotzdem ist die Person LehrerIn diejenige, auf die es im Schulalltag ankommt. Im Jahr 2003 unterrichteten in Hessen 55.732 LehrerInnen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen. Fast die Hälfte davon (26.524) ist über 50 Jahre alt.

Darmstadt hatte zu Beginn des Schuljahres 2003 insgesamt rund 19.000 SchülerInnen an allgemeinbildenden Schulen, so die Zahlen des Hessischen Statistischen Landesamtes in Wiesbaden (2004), und natürlich können nicht alle diese Kinder im Turbotempo zu Hochleistungsabschlüssen geführt werden. Aber alle diese Kinder haben ein Recht auf die von politischer Seite versprochene Unterrichtsgarantie und auf Bedingungen, die das Lernumfeld gut gestalten. Überfüllte Klassen gehören sicherlich nicht dazu: »Die Arbeitsbedingungen von seiten der Schulleitung aus sind schwieriger geworden, weil die Schulklassen größer geworden sind«, so Robert Lösch. Allerdings haben sich an seiner Schule für ihn persönlich die Arbeitsbedingungen durch einen Neubau sehr verbessert. »In diesen neuen Fachräumen kann ich das Fach Arbeitslehre, wie ich es verstehe und interpretiere, bestens umsetzen.«. Solche Bedingungen gibt es nicht an allen Darmstädter Schulen. Viele Schulgebäude werden seit Jahren saniert, doch oft ist es nur Flickschusterarbeit, weil auch in diesen Töpfen die Gelder fehlen. Da ist Kreativität gefragt. Wenn es jedoch in Klassenräume regnet, wie im vorletzten Jahr in der Lichtenbergschule, ist auch mit Kreativität nicht mehr viel zu erreichen. Lebensnah allerdings ist das durchaus!

Wir haben alle unsere Gesprächs-partner gefragt, ob ihnen Schule noch Spaß mache. Ja, noch, war die fast einmütige Antwort. Also gibt es sie trotz aller unwegsamer Bedingungen und zum Wohl unserer Kinder: positiv denkende PädgogInnen.

Anja Spangenberg / Gabriele Merziger

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