Werden Sie auch eine
Fotos: Gabriele Merziger
Von der anstehenden Einschulung zu sprechen, bedeutet, über gesellschaftliche
und familiäre Situationen nachzudenken, in denen (meist unbewusst) Ängste
geschürt werden, die das lustvolle, neugierige »Da-sein« für Kinder
verunmöglichen.
Gerade nach PISA lebt der Vor-Schulstress wieder auf. Und in den meisten
Fällen sind Stress und Ängste der Kinder hausgemacht und zurückzuführen
auf Übertragungen aus dem Familienkreis und einen »Vergleichsboom« in
Hinblick auf die Entwicklung des eigenen Kindes, der bereits Einjährige
unter Erfolgszwang setzt!
Rein äußerlich sieht das Herannahen des Themas »Schule« so aus: die
»Kennenlerntage« in den Grundschulen finden statt, Patenbriefe werden
geschrieben, die Kindergartenkinder werden Schulärzten und Lehrern vorgestellt.
»Benimm dich! Sei höflich und schreib' deinen Namen richtig, hörst
du?!«
Große Aufregung herrscht bei den Kleinen, für die ein neues Kapitel
ihres Lebens beginnt. Sie sind begierig darauf, ihre Schultüte zu basteln
und sind stolz, die Großen im Kindergarten zu sein. Bald heißt es, Abschied
zu nehmen. Neues beginnt.
Kinder sind im Grunde immer offen für Neues, sind neugierig und wissbegierig
- so man es ihnen gestattet! Größer zu werden ist ein aufregender, spannender
Prozess, den das Kleinkind mit erwachendem Ichbewusstsein herbeisehnt
und stolz durchlebt. Wenn es darf!
Wenn es Eltern hat, die ihm das Größerwerden erlauben, die loslassen können
und Lernprozesse auf allen Ebenen unterstützen. Im kindgemäßen Tempo!
Rundum und ohne Druck!
Das alles ist leider nur selten so. Und auch Erzieherinnen im Kindergarten
können an einem schon früh verunsicherten Kind nicht wieder gut machen,
was im Elternhaus suggeriert wurde.
Schauen wir zurück: wir werden Eltern aus den unterschiedlichsten Motivationen
heraus. Nicht immer - und viel seltener als angenommen- sind diese Motivationen
uneigennützig
Die Gründe dafür, dass ein Kind geboren wird, und wie es geboren wird,
wie es die ersten neun Monate im Mutterbauch verlebt, sind sehr unterschiedlich.
Und ungeheuer prägend für das Kind und seinen Umgang mit der Welt.
All die Lebenszeit des Kindes vor der Einschulung hinterlässt ihre
Spuren, ihre Ängste, Defizite und Konflikte - aber auch Lebenslust,
Neugier, Vertrauensbasis.
Die Kindergärten arbeiten familienergänzend. Sie versuchen, die Kinder
außerhalb der Familien in soziale Zusammenhänge zu integrieren, ganzheitlich
(motorisch, kognitiv, taktil, sprachlich) zu fördern. Doch was immer
die Institution Kindergarten mit hoher Sensibilität vermitteln kann
- A und O bleibt die frühkindliche Entwicklungsbasis, die das Elternhaus
bietet.
Nun ist aber das Leben vieler Familien geprägt von Stress, Hilflosigkeit
in Konfliktsituationen, Kommunikationsstörungen, Medienberieselung und
einer nie da gewesenen Kommerzialisierung unerfüllter Bedürfnisse.
Die Familie, als kleinste Zelle des Staates, spiegelt das gesamtgesellschaftliche Defizit im sozialen Miteinander und die Überbewertung intellektueller Leistung innerhalb der Medienkultur wider.
Wo der Einzelne sich nicht kritisches Denken und Anteilnahme am Nächsten
bewahrt, besteht die Gefahr des Ichverlustes: als »Rädchen im Getriebe«
können wir unseren Kindern keine Stütze sein.
Elterngespräche heute setzen hohe sprachliche, pädagogische und psychologische
Kompetenzen der Erzieherinnen voraus. Erzieherinnen müssen Worte finden,
Nöte zu benennen, denen Eltern oft im sprachlichen Vakuum begegnen.
Denn häufig muss hier der Hebel angesetzt werden, um Kindern einen »emotionalen
und kognitiven Befreiungsschlag« zu sich selbst zu ermöglichen. Die
Zusammenarbeit der Erzieherinnen mit Familienberatungsstellen ist unabdingbar
geworden. Denn sehr oft ist dem Kind nur zu helfen, wenn Eltern bereit
sind, ihre »schiefe« Familiensituation gerade zu rücken.
Wo die PISA-Studie mehr Wissensvermittlung im Kindergarten fordert,
intensivere Sprachvermittlung und konzentriertes »Arbeiten« als
schulvorbereitend empfiehlt, läuft die Pädagogik Gefahr, im vorschulischen Lernstress
sich zurückzuentwickeln Richtung Funktionsansatz: Stillsitzen, Arbeitsblätter
ausfüllen, Drei- und Vierecke zeichnen, Namen schreiben und die Strukturen
des Männchenmalens einzutrichtern. Die Verkopfung schreitet fort, wo
Erwachsene bereits auf Dreijährige Ängste übertragen, das Kind könnte
als Sechsjähriges im schulischen Bereich versagen.
Versagensängste der Erwachsenen, Unsicherheit in der eigenen Wahrnehmung,
permanentes Vergleichen der kindlichen Fähigkeiten »Läuft dein Kind
schon? Schwimmt es schon? Ist es sauber? Fährt es schon Fahrrad?«
setzen ganze Familien unter einen immensen Erfolgsdruck, dem Kinder
immer häufiger mit sozialen Auffälligkeiten begegnen müssen. Natürlich
suchen sie sich (so weit sie relativ gesund sind) Ventile, Frustration
abzureagieren.
Wenn Kopf und Herz und Bauch nicht kongruent zueinander groß werden
dürfen, wenn das Kind sich nicht im ihm gemäßen Tempo entwickeln darf
und sich ausprobieren und erfühlen kann, entsteht ein verkrampftes,
verkopftes, zutiefst verunsichertes Wesen, das die Ängste seiner Eltern
im schulischen Leidensweg ausbaden muss.
Kinder, die mit der nötigen Zeit und emotionalen Sicherheit aufwachsen
können, die sie brauchen, die nicht von Termin zu Termin gehetzt werden
(Ballett, Schwimmen, Turnen, Musizieren, Englisch etc.), die ihr eigenes
Entwicklungstempo in einer sensiblen, kommunikativen Familienatmosphäre
finden können, haben keine Angst vor Neuem. Sie haben keine Angst vor
der Schule. (Wie erschreckend »verkopft« auch immer die Strukturen dort
sein mögen!) Sie sind gespannt und selbstsicher. Sie sind überzeugt,
sie können die Welt erobern! Können die Drachen der Alpträume besiegen!
Können den Wolf von »Rotkäppchen« reinlegen, können bald so schnell
Rennrad fahren wie Papi und irgendwann sind sie Zauberinnen, so groß
und wunderbar wie Mama!
Kinder, die Eltern haben, die das Leben bejahen, die gern neue Erfahrungen
machen und Sorgen als lösbar begreifen, verlieren nicht das Urvertrauen
in die Welt und machen sich ohne Versagensängste daran, ihren Radius
mit allen Sinnen zu erweitern.
Wir lernen schreiben, rechnen, lesen - und dann lesen wir Papa vor
dem Einschlafen was vor! Nicht nur umgekehrt - denn auch wir werden
groß!
Frühförderstellen und Therapeuten aller Couleur haben regen Zulauf.
Im sozialen und familiären Bereich unserer Hightech-Gesellschaft tun
sich Abgründe auf.
Und doch sind es sehr häufig gerade extrem gestörte Familienkonstellationen,
die sich in sich verschließen und kompetenten Therapeuten ausweichen.
Es herrscht Angst. Angst vor der Wahrheit, dass man das Leben nicht
bewältigen kann und hilflos steht mit einem (als Folge) extrem verstörten,
entwicklungsgehemmten Kind.
In einer Gesellschaft, in der Erfolg alles ist, ist die Scham groß,
Hilflosigkeit zuzugeben. Zu Lasten der Kinder. Denn für all diese Kinder,
deren Eltern die Augen vor ihren eigenen Nöten verschließen, ist der
Tag der Einschulung oft der Tag, dem die bittere Wahrheit auf dem Fuß
folgt: das Kind als Symptomträger verdeckter Not ist nicht beschulbar.
Lernt zu langsam. Stört. Ärgert. Schlägt. Schweigt.
Zum Thema Bildung lohnt es sich, mit dem Nachdenken bei den ganzen Kleinen unserer
Gesellschaft anzufangen und sich klar zu werden über Verantwortlichkeiten - und
über den nichts sagenden, überhöhten Begriff der »Schulreife«.
Kinder, so heißt es, sind unsere Zukunft. Doch allzu oft sind sie bereits als
Fünfjährige zutiefst belastet und erschüttert, weil Erwachsene sich schämen und
fürchten, Orientierungslosigkeit, emotionale Leere und Angst einzugestehen. Wenn
wir, die Eltern oder auch Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen, uns selbst nicht
kennen und die Augen verschließen vor Konflikten, bürden wir unseren Kindern
eine Last auf, die emotionaler Erstarrung und zwischenmenschlicher
Kälte für die Zukunft verstärkt Vorschub leistet.
Unseren Kindern ist nur zu helfen, wenn wir, die so genannten
»Erwachsenen«, bei uns selbst anfangen.
Das bedarf des Mutes zur Wahrheit - und erhöhter Sensibilität im Umgang miteinander.
Gerade auch im Bereich Entwicklungsgespräche zwischen pädagogischen
Fachkräften und Eltern.
Eltern sollten darüber nachdenken - lang bevor die Schultüte gebastelt wird! Prima, wenn alles glatt läuft in der Familie und der Entwicklung des Kindes - doch das ist immer häufiger nicht der Fall.
Charlotte Martin