Werden Sie auch eine

MATHILDE

 

Renate Künast, geboren1955 in Recklinghausen, studierte Sozialarbeit an der Fachhochschule Düsseldorf. Von 1977 bis 1979 arbeitete sie als Sozialarbeiterin in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel speziell mit Drogenabhängigen. Ihr Jura-Studium schloss sie 1985 mit dem zweiten Staatsexamen ab. Sie ist Rechtsanwältin. Ihre politische Karriere begann sie 1979 mit dem Eintritt in die Berliner Grün-Alternative Liste (AL). Seit dem 12. Januar 2001 ist sie Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Mit ihrem zweiten Buch »Die Dickmacher« möchte sie über die Ursachen von Übergewicht aufklären - und zeigen, was man dagegen tun kann.

 

Renate Künast: Die Dickmacher: Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen, Riemann Verlag München, 2004, ca. 17,- €

Werden die Deutschen immer fetter?

Das ist offensichtlich so. Aber es ist nicht nur ein deutsches Problem. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht bereits von einer »weltweiten Epidemie«. In den USA, dem Mutterland des industriellen Fast Food, wird Fettleibigkeit das Rauchen bald als Todesursache Nummer eins ablösen. Dort ist inzwischen die fetter werdende Gesellschaft Topthema in den Medien; selbst Präsident George W. Bush hat sich öffentlich dazu geäußert und eine Kampagne gestartet.

In Deutschland, wo, außer in England, die meisten Fettleibigen und Übergewichtigen Europas leben, wird der aus Amerika kommende Lebensstil zum Politikum. Obwohl wir mehr denn je über gesunde Ernährung wissen und viele Menschen Sport treiben bzw. in Fitness-Studios gehen, wird die deutsche Bevölkerung aufs Ganze gesehen immer dicker. Wie kommt das? Essen ist heute fast überall zu relativ günstigen Preisen zu haben. Gleich um die Ecke gibt es bereits oft die nächste Pommesbude, den Dönerstand oder den Pizza-Straßenverkauf. Fast Food und Fertiggerichte sind zumeist enorm kalorienreich, vor allem wegen der Fette. Der Durst wird zumeist mit süßen Limonaden gelöscht. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns immer weniger bewegen: Wir fahren mit dem Auto zum Arbeitsplatz, ja sogar zum Sport, benutzen Aufzug und Rolltreppe und sitzen in der Regel täglich vorm Fernseher. Für unsere Kinder sind wir schlechte Vorbilder. Und in deren Schule fällt allzu oft der Sportunterricht aus. Erwachsene und Kinder nehmen mehr Kalorien zu sich, als sie bei diesem Lebensstil verbrauchen. Diese überschüssige Energie lagern wir in unserem Körper in Fettzellen ab, für schlechte Zeiten - wie das unser Körper über Jahrhunderte gelernt hat. Und so nehmen wir Tag für Tag ein paar Gramm zu.

Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, hat dem Übergewicht den Kampf angesagt und es zum politischen Thema gemacht. In ihrem Buch Die Dickmacher begründet sie ausführlich, warum Dicksein keine Privatsache sein kann. Die Quasi-Epidemie, die sich zur regelrechten Volkskrankheit auswachsen kann, verursacht enorme gesellschaftliche Kosten. Rund ein Drittel der gesamten Gesundheitskosten in Deutschland werden mittlerweile durch ernährungsbedingte Krankheiten verursacht.

»Es geht hier nicht um Einzelschicksale, sondern um die Gemeinschaft. Die Folgekosten zahlt jeder Steuerbürger, jeder Unternehmer, jeder Krankenkassen-Beitragszahler. Ist es wirklich demokratisch, Gewinne einer Technik zu privatisieren, Folgekosten aber auf die Gemeinschaft abzuwälzen?«

Ein Blick in die Statistik zeigt, dass in Deutschland jeder zweite Bürger an Übergewicht leidet und knapp 20 Prozent der Bevölkerung bereits die zweite Stufe erreicht haben: sie sind »fettleibig« (adipös). Das geänderte Freizeitverhalten hat inzwischen auch die Sprösslinge erreicht: Sie sind breiter geworden, schwerer, träger - und geraten schneller außer Puste. Wenn die Entwicklung nicht gestoppt wird, kann es gut sein, dass schon im Jahr 2030 jedes zweite Kind (!) fettleibig sein wird. Für Kinder kann Dicksein jedoch ein wirkliches Martyrium bedeuten. Sie sind sozial, emotional und physisch extrem eingeschränkt, d.h. sie werden häufiger krank, sind oft allein und werden so auch noch depressiv und ängstlich. Zudem haben sie ein erhöhtes Risiko für Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Übrigens ist Deutschlands Hauptstadt der dicken Kinder Frankfurt am Main (!) - vor Stuttgart und Berlin. Hier werden bereits 17 Prozent der Erstklässler mit Übergewicht eingeschult. Die Zahlen des Städtischen Gesundheitsamtes belegen, dass bei diesen Kinder aus sozial schwächeren Familien deutlich mehr zu Übergewicht neigen, genau so wie Kinder aus Familien mit Migrations-Hintergrund, z.B. türkisch-stämmige Kinder.

Als zentrale Aufgabe der Politik sieht es Renate Künast an, weitreichende Gerechtigkeit bei den Startchancen ins Leben zu schaffen. Das heißt, es sollen Wissen und Fähigkeiten vermittelt werden, die mit hinreichender Bewegung und vernünftiger Ernährung zu tun haben. Für sie ist Fettleibigkeit auch ein Bildungsproblem. Deshalb will sie schon früh, in der Vorschulerziehung, mit gezielter Aufklärung beginnen und das Programm in der Schule fortsetzen - mit entsprechend aus- und fortgebildeten Lehrkräften. Die Ernährungsministerin will jedoch nicht nur Umsetzung dieses Wissens fördern, sondern auch die nötige Infrastruktur in den Kindergärten und Schulen schaffen. In Ganztagsschulen lässt sich ihrer Meinung nach dieses Konzept am besten verwirklichen.

Finnland, der Testsieger der PISA-Studie, ist auch auf diesem Gebiet beispielhaft: Dort gibt es auch die entsprechende Küchen-Ausstattung in den Schulen, die eine ordentliche Gemeinschaftsverpflegung gewährleistet – und das zu einem günstigen Preis.

Aber auch um die übergewichtigen Erwachsenen möchte sich Renate Künast kümmern, obwohl sie die Möglichkeiten eher für begrenzt hält. Immerhin hat sie eine Initiative »Ernährung und Bewegung« gestartet, die sich speziell an Erwachsene wendet – zumindest ein erster Schritt gegen die verbreitete Gleichgültigkeit. Da sie Dicksein als gesamtgesellschaftliches Problem ansieht, befasst sie sich auch mit den Lebensmittel-Herstellern und deren Werbung. Als zuständige Ministerin möchte sie erreichen, dass diese vermehrt gesunde Produkte mit weniger Kalorien, sprich weniger Fett und Zucker, anbieten. Das soll auf freiwilliger Basis erreicht werden. Daher zählt sie auf den guten Willen der Hersteller und deren Interesse am guten Ruf ihrer Erzeugnisse. Erforscht wird inzwischen schon, wie Übergewicht entsteht und wie es vermieden werden kann. So gibt es zum Beispiel bereits einen Fruchtriegel nach dem Motto »Esst mehr Obst«, der statt zuvor 380 kcal nur noch 95 hat. Positive Ansätze gibt es also.

Renate Künast hält eine »Gesundheitsreform auf dem Teller« für dringend erforderlich. Sie stellt in ihrem Buch eine Ernährungspyramide »Optimaler Nährstoffmix« (s. Abb.) nach neuesten Erkenntnissen vor. Danach sollen Obst und Gemüse die Basis der Ernährung bilden, ungesättigte Fette deutlich aufgewertet und Kohlenhydrate reduziert werden. In einem mehrseitigen Farbteil präsentiert die Ministerin beeindruckende Kalorienbomben wie Bagels, Alkohol, Frühstücksriegel, Snacks, Süßigkeiten und Burger - und stellt ihnen gesündere Alternativen gegenüber. Das Kapitel »Snack Attack oder Wie uns fette, süße, große Verführer zusetzen« führt vor, dass Bio-Ernährung, also Produkte aus dem Naturkostladen oder vom Biobauern nicht teurer sein muss als konventionelle Lebensmittel aus dem Supermarkt. Gleichzeitig wird deutlich, dass gesundes Essen, z.B. ohne Gentechnik nicht nur seinen Preis, sondern auch seinen Wert hat.

Das Buch »Die Dickmacher« ist kein Ernährungsratgeber und auch keine Diätfibel. Es ist eine umfassende Analyse falscher Ernährung und der Chance ihrer Überwindung. Locker und unterhaltsam geschrieben, dennoch mit Tiefgang. Zusammen mit ihrem Co-Autor Hajo Schumacher stellt Renate Künast neben ökonomischen und historischen Aspekten auch sozial- und gesundheitspolitische Hintergründe in verständlicher Form dar. Sie plädiert dafür, dass alle Beteiligte: Eltern, Lehrer, Lebensmittelhersteller, Handelsketten, Medien, Städteplaner usw. den »Hüftringen« gemeinsam zu Leibe rücken – in einer »deutschlandweiten Kraftanstrengung«. Nach dem Motto: »Nur gemeinsam werden wir schlank.« Ziel ist, eine neue, gesunde Bewegung für gesunde Ernährung zu initiieren - wobei die Betonung auch auf »Bewegung« liegt.

Überraschend für eine grüne Ministerin ist ihr Plädoyer für ein Zurück zu sehr bürgerlichen Tugenden. Sie empfiehlt z.B. zumindest einmal täglich ein Familienessen mit Frischkost in angenehmer Atmosphäre und dem Gebrauch von Messer und Gabel – also kein Finger-Food. Sympathisch wird dieses kartonierte Buch durch persönliche Anmerkungen der Autorin und ihr Eingeständnis, dass auch sie sich ein paar Kilos (wörtlich: »Ministerkilos«) zugelegt hat. Mit denen kämpft sie ständig, damit es nicht mehr werden. Nach ihren Angaben liegt sie damit gerade noch im normalen Bereich, wünscht sich aber bei den vielen Sitzungen und Konferenzen statt fettreicher Schnittchen und süßer Happen oder großer Menüs mit Alkohol einen Obstkorb bzw. viel mehr Obst und Gemüse. Zu ausgleichender Bewegung lässt ihr Terminplan in der Regel keine Zeit. Snacks gibt es in ihrem kleinen Haushalt nicht; stattdessen nimmt sie ihren Wok hervor und kocht sich - und auch ihren Freunden - kleine, aber schmackhafte Gerichte.

Ursula Geiling

zurück

MATHILDE