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Vera Bohle: »Mein Leben als Minenräumerin«, Krüger Verlag, ISBN 3-8105-0255-3, gebunden, ca. 19,90 EUR.

Leben zwischen Tretminen und Splitterbomben

Die ehemalige TV-Redakteurin Vera Bohle (34) ist die einzige deutsche Minenräumerin. Ihr Beruf führt sie als einzige Frau in einer Männerdomäne zu gefährlichen Einsätzen in die Kriegs- und Krisengebiete dieser Welt.

Mein Leben ist friedlich, schön und sorgenfrei. Ich kann mit gutem Gewissen behaupten, dass ich »dick mit dem Hintern in der Sahne sitze«, sagt Vera Bohle, 1969 in Recklinghausen geboren, über ihre Jugendzeit, die sie im Kreis ihrer Familie in Köln verbringt. Dort haben sich ihre Eltern nach mehrjährigen Aufenthalten in der Türkei, Iran und Belgien niedergelassen. Mit ihren Eltern versteht sich Vera Bohle gut, sie engen sie nie ein und machen in der Erziehung keinen Unterschied zwischen ihr und ihrem Bruder. »Für ein Mädchen gehört sich das nicht«, diesen sonst so üblichen Satz bekommt die Tochter nie zu hören. Die Freiheit und die Gleichbehandlung, die die jugendliche Vera durch die elterliche Erziehung erfährt, haben sicher dazu beigetragen, dass sie sich später ohne größere Probleme in einer Männerwelt durchsetzen kann.

Was veranlasst das sorgenfrei lebende Mädchen, das alles hat, was es sich nur wünschen kann, dazu, einen gefährlichen »Männerberuf« zu ergreifen und mit nie nachlassender Energie und Einsatzbereitschaft hochexplosive Gegenstände von ehemaligen Kriegsschauplätzen zu entfernen? Oder ist es gerade das schöne sorgenfreie Leben, das letztendlich nach einer sinnvollen Tätigkeit verlangt?

Nach dem Abitur ist der hochgewachsene blonde Teenie noch orientierungslos, was die Berufswahl betrifft. Nur eins weiß Vera, dass sie, geprägt durch die zahlreichen Auslandsaufenthalte mit den Eltern, im Ausland arbeiten will. Der Arbeitsberaterin teilt sie mit, dass sie Auslandskorrespondentin oder »doch lieber Außenministerin« werden will. Vera studiert erstmal drauflos: Theater-, Film-, Fernsehwissenschaften, Germanistik und Volkswirtschaft an der Uni Köln. Das Studium soll ihr helfen, ihre Gedanken zu strukturieren und Teile der Welt zu erklären, aber ihre Hoffnung erfüllt sich nicht. Sie entscheidet sich für die praktische Arbeit und erhält einen Praktikumsplatz bei einer Fernsehproduktionsfirma. Journalismus kommt ihrem Wunsch entgegen, mehr zu verstehen. Auch die Entwicklungshilfe interessiert Vera Bohle, ihre Vorstellungen davon sind aber zu dieser Zeit noch diffus. Sie stellt sich einen kleinen, Erfolg versprechenden Bereich vor, in dem sie tatsächlich Wirkung erzielen kann.

Nach eineinhalb Jahren als Cutterin und Fernsehtechnikerin wechselt Vera Bohle wieder zur Uni und startet mit einer neuen Fächerkombination: Zu den Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften kommen Politik und Geographie. Diesmal läuft es besser, sie trifft kompetente Professoren und setzt sich mit spannenden Themen auseinander. Die Semesterferien nutzt Vera Bohle, um die Welt weiter zu erkunden: Madagaskar, Australien und Mosambik. Hier wird sie zum ersten Mal mit Flüchtlingselend konfrontiert. Die Bilder berühren sie sehr. Beim Einsatz als Cutterin im kriegsgeschüttelten Somalia taucht wieder der Gedanke auf, in der Entwicklungshilfe zu arbeiten, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Eine anschließende dreimonatige Reise alleine durch die Mongolei bewirkt bei Vera einen Wendepunkt. Sie spürt, dass das Reisen, die Bewegung von A nach B, sie nicht mehr befriedigt. Ihr nächster Auslandsaufenthalt soll mit einer sinnvollen Tätigkeit verbunden sein.

Vera Bohle absolviert eine Hospitanz beim WDR, steigt dann beim ZDF, bei »Kennzeichen D«, ein. Sie fühlt sich aber nicht recht wohl, sieht wenig Sinn in ihrer Arbeit und kommt wieder an den Punkt, Nützliches im Bereich Flüchtlingshilfe tun zu wollen, vor allem in Ländern, die nach einem langen Krieg wieder aufgebaut werden müssen. Während sie über ihre Zukunft nachdenkt, liest sie eine Agenturmeldung über die Ausbildung zum Minenräumer in der Dresdner Sprengschule. Sie ist wie elektrisiert, die Nachricht fällt auf fruchtbaren Boden. Plötzlich passen die Bilder zusammen, eine Gedankenlawine rauscht los: Die Voraussetzung für Flüchtlingshilfe und -rückführung ist schließlich, dass die Minen geräumt sind. Sie würde den Menschen direkt helfen und hätte die Chance, das Gelernte weiterzuvermitteln. Hilfe zur Selbsthilfe. Vera Bohle weiß jetzt, dass sie ihr zukünftiges Betätigungsfeld gefunden hat, die Gefahr des Berufs tritt in den Hintergrund.

Zielstrebig absolviert sie als einzige Frau unter Männern verschiedene Lehrgänge zur Ausbildung als Minenräumerin, die theoretischen und praktischen Abschlussprüfungen fallen ihr leicht. Zäh bewirbt sie sich danach bei mehreren Hilfsorganisationen und hat endlich bei »Help« Erfolg. Ihr erster Einsatz findet im Jahr 2000 im Kosovo statt.

Hochkonzentriert arbeitet sich Vera Bohle von da an als einzige deutsche Minenräumerin Zentimeter für Zentimenter durch die Minenfelder in Mosambik und Zimbabwe, in Albanien, Bosnien und Afghanistan. Sie muss sich bei ihrer Arbeit nicht nur in diesem »männlichen Beruf« durchsetzen, sondern ihre Kompetenz auch oft der Bevölkerung in den »männlich« dominierten Einsatzgebieten beweisen. Sie tut es zielstrebig und trotzdem mit viel Einfühlungsvermögen in andere Kulturen und Mentalitäten. Ihre eigene »einzigartige« Stellung in dieser Männerdomäne schärft auch ihr Wahrnehmungsvermögen für die Situation der Frauen in den Ländern, sie ist immer interessiert und nimmt Kontakt auf. Die sympathische Frau vermittelt Abenteuerlust und Wagemut in ihrem gefährlichen Beruf, ist aber gleichzeitig sehr besonnen und gewissenhaft und nimmt auch ihre Ängste ernst. Sie weiß außerdem zu schätzen, dass das Glück ihr bisher zur Seite gestanden hat. 2002 wird Vera Bohle mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Ihren Werdegang, ihre Gedanken und Gefühle - im privaten und beruflichen Bereich - beschreibt Vera Bohle in ihrem in diesem Jahr erschienenen Buch »Mein Leben als Minenräumerin«. Trotz der oft sehr ausführlichen und wiederholten Beschreibungen über Minenräumungen bleibt das Buch immer spannend, zumal auch die analysierenden Gedanken der Autorin über sich selbst fesseln.

Vera Bohle sitzt schon lange nicht mehr »mit dem Hintern in der Sahne«. In 20 Jahren will sie nach eigenen Aussagen keine Minen mehr räumen, »denn nichts ist gefährlicher als Routine«. Sie will ihr Glück nicht überstrapazieren.

Helge Ebbmeyer

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