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Kerala aus der Distanz gesehen

Mit dem roten Punkt der verheirateten Frau auf der Stirn und in legerer westlicher Kleidung sitzt sie mir gegenüber, Aleyamma Mundackatharappel, eine Inderin in Deutschland.

Den Punkt trägt sie mit Stolz und im Bewusstsein ihrer hinduistischen Tradition, sagt sie, auch wenn das hier in Deutschland nicht unbedingt erforderlich wäre. »Er gehört einfach zu mir,« erklärt sie lächelnd. Mit einem Pulver trägt sie ihn jeden Tag wieder neu auf. Obwohl sie als Christin keiner Kaste angehört, ist ihr dieses äußere Zeichen ihres Inderin seins wichtig. Im modernen Indien wird es heute aber von vielen Frauen, insbesondere den jüngeren, nur noch als Schmuckelement gesehen.

Frau Mundackatharappel kam vor 40 Jahren als junge Frau durch kirchliche Vermittlung nach Deutschland. Sie hat in der Fachhochschule das Diplom als Sozialarbeiterin erworben. Hier lernte sie auch ihren späteren Ehemann Cyriac kennen, der ebenfalls indischer Herkunft ist. Das Ehepaar hat zwei Töchter (Suja und Suma – siehe Berichte auf den nächsten beiden Seiten) und lebt in Frankfurt am Main. Beide Töchter haben eine Ausbildung in Klassischem Indischen Tanz genossen.

Frau Mundackatharappel arbeitet beim Jugendamt Frankfurt und betreut dort als Sozialarbeiterin ausländische Jugendliche. Ihre Heimat ist Kerala im Süden Indiens, ein Bundesland etwa so groß wie Hessen mit ca. 30 Millionen Einwohnern. Dort leben auch ihre Eltern im Hause eines ihrer Brüder. Mindestens einmal im Jahr ist sie bei der Großfamilie zu Besuch, wodurch ihr der Blick auf die dortigen Lebensbedingungen sowohl von außen als auch von innen möglich ist. Sie gewährt mir interessante Einblicke in das Leben in ihrer Heimat, wobei sie betont, dass die Erfahrungen und Fakten sich nur auf Kerala beziehen und keinesfalls auf ganz Indien übertragbar sind.

Traditionell kümmert sich immer einer der Söhne um die Eltern, denn eine staatliche Altersversorgung gibt es nicht. Sehr viel wird von staatlicher Seite jedoch für die Bildung getan. Bis zur 10. Klasse ist der Schulbesuch kostenlos. Als einziges Bundesland in Indien gilt Kerala zu 100 Prozent alphabetisiert. Nicht nur für Söhne, auch für ihre Töchter streben Eltern eine umfassende Schul- und Berufsausbildung an, oftmals unter großen finanziellen Anstrengungen.

Das durchschnittliche Heiratsalter liegt, ähnlich wie in europäischen Ländern, bei 20 Jahren. Kinderheirat ist weitgehend abgeschafft, allenfalls in ländlichen Gegenden kommt sie noch vereinzelt vor. Ehen werden üblicherweise von den Familien arrangiert; Liebesheiraten sind immer noch die Ausnahme.

»Auch für zwei meiner Brüder wurden, wie üblich, Frauen für die Heirat ausgesucht, aber beide sind sehr glücklich mit ihren Ehefrauen,« erzählt Frau Mundackatharappel. »In einer arrangierten Ehe bemühen sich beide Partner einfach viel mehr, sich gegenseitig zu akzeptieren. Es gibt eine viel größere Achtung füreinander, als ich das hier in meinem deutschen Freundeskreis erlebe. Und man gibt auch nicht so schnell auf, weil man die Erwartungen der Familien nicht enttäuschen will.«

Entscheidend wirkt sich aber auch die Tatsache aus, dass geschiedene Frauen in der indischen Gesellschaft keine Akzeptanz finden und von ihren Familien oftmals sogar ausgestoßen und enterbt werden.

Ein sehr großes Problem ist die immer noch obligatorische Mitgift. Oftmals werden so hohe Summen gefordert, dass viele Familien, besonders wenn mehrere Töchter da sind, in den finanziellen Ruin getrieben werden. Es kommt auch immer wieder vor, dass junge Frauen deshalb unverheiratet bleiben müssen. Wenn Familien die geforderten und zugesagten Summen dann doch nicht aufbringen können, sind Mitgiftmorde keine Seltenheit. Häufig werden die jungen Ehefrauen aber auch von der Schwiegerfamilie gequält und deren Eltern mit immer neuen Forderungen erpresst.

Die Zahl der Kinder ist durch umfassende Aufklärungsarbeit zur Geburtenkontrolle auf zwei bis drei pro Familie zurückgegangen. Auch die Kindersterblichkeit ist auf einem niedrigen Stand, da moderne junge Mütter ihre Kinder gesünder ernähren und unter besseren hygienischen Verhältnissen aufwachsen lassen können.

Nach dem Gesetz sind Mann und Frau auch in Indien völlig gleichgestellt. Doch wie überall auf der Welt, wo patriarchale Systeme bestehen, sieht die Realität noch anders aus. Die Situation der Frauen in Indien ist aber nicht homogen. Einerseits finden sich Beispiele für ihre Unterdrückung, andererseits gibt es eine große Anzahl von Ärztinnen, Lehrerinnen, Ingenieurinnen und Wissenschaftlerinnen. Auch in der Politik spielen sie eine große Rolle und bekleiden führende Positionen. Ähnlich wie in Deutschland werden an Frauen generell höhere berufliche Leistungsanforderungen gestellt als an ihre männlichen Kollegen, trotz gleicher Ausbildung und Qualifikation und sie werden schlechter bezahlt.

Die allgegenwärtige soziale Kontrolle ist für Frauen sehr einengend. Vor allem von den Schwiegermüttern werden sie streng kontrolliert und bevormundet. »Trotz langer Abwesenheit könnte ich mir vorstellen, wieder in Indien zu leben,« sagt Frau Mundackatharappel, »obwohl vieles für mich schwieriger und ich weniger frei wäre.«

Christa Berz

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