Werden Sie auch eine

MATHILDE

Scheidung nach 33 Ehejahren

Die Geschichte eines langsamen Erwachens

Eine Kindheit ohne Zärtlichkeit aber mit vielen Pflichten mündete in eine unharmonische Ehe. Die Autorin schildert ihren steinigen Weg zu einem selbstbestimmten Leben.

Ich wurde 1928 geboren und wuchs in einer kleinen Odenwaldgemeinde auf – in einem Elternhaus, in dem die Arbeit und die Existenzsicherung den absoluten Vorrang vor allem anderen hatte. Schon während der Schulzeit hatte ich jeden Tag ein Quantum an Pflichten zu erfüllen, das mir kaum Zeit zum Spielen ließ. Öfter büxte ich aus, was mir abends dann ein gerüttelt Maß an Schelte einbrachte. In der Schule lernte ich sehr schnell – das Meiste über die schreckliche Naziideologie. Ich langweilte mich oft, weil der Lehrstoff erst dann wechselte, wenn es die / der Letzte in der Klasse begriffen hatte. Nach der Schulentlassung durfte ich noch zwei Jahre die Staatliche Handelsschule in Darmstadt besuchen. Es war Krieg, es gab fast jeden Tag Fliegeralarm. Gerne hätte ich die höhere Schule besucht, aber mein Vater meinte: »Studierte Weibsleit schaffe nichts.« Damals nahm ich mir schon vor, wenn ich mal Kinder hätte, dürften diese die Ausbildung absolvieren, die sie wollten.

Danach arbeitete ich im elterlichen Geschäft und deren Landwirtschaft. Meine Eltern legten großen Wert auf Gutbürgerlichkeit, Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit. Man durfte im Ort nicht auffallen. Es gab keine Aufklärung über Sexualität. Ich vermisste Zärtlichkeit und die Anerkennung meiner Leistungen, insbesondere seitens meiner Mutter.

Im Krieg waren viele junge Männer gefallen und es war für mich mit meinen siebzehn Jahren schwer einen passenden Ehemann zu finden, der auch das Geschäft und die Landwirtschaft hätte übernehmen können. Meine Eltern erwarteten dies insgeheim von mir, denn eine ältere Schwester war schon verheiratet und außer Haus, eine war gestorben und die andere schwer krank. Als unaufgeklärtes Mädchen bemerkte ich dennoch eines Tages, dass ich schwanger war. Den Freund und Vater meines Kindes heiratete ich mit zwanzig Jahren. Nach einer durch den Kriegseinsatz abgebrochenen Lehre als Zimmermann erlernte er nach der Hochzeit den Beruf meiner Eltern. Es zeigte sich sehr schnell, dass die »Chemie« zwischen meinen Eltern und meinem Mann nicht übereinstimmte. Ich stand daher zwischen zwei Stühlen. Innerhalb von zehn Jahren bekam ich fünf Kinder: drei Mädchen und zwei Jungen. Ein Junge starb mit zwei Jahren an einem Unfall. Dies war ein sehr großer Schlag für mich.

Das Verhältnis zwischen meinen Eltern und meinem Mann verschlechterte sich dermaßen, dass sich mein Mann eine andere Arbeit suchte. Ich blieb mit meinen Kindern im Elternhaus und arbeitete weiter bis zu meinem 28. Lebensjahr im Geschäft. Als sich das fünfte Kind anmeldete, wollte ich endlich eine normale Ehe führen und zog zu meinem Mann in eine große Stadt. Kurz nach der Geburt des Kindes verunglückte mein Mann schwer. Erst nach drei Jahren konnte er wieder eingeschränkt arbeiten. Damals war man nach sechs Monaten Krankheit »ausgesteuert«, d.h. es gab kein Krankengeld mehr. Die Versicherung des Unfallverursachers zahlte in diesen drei Jahren nur einmal eine kleine Summe Unterhalt. Ich war gezwungen, abends arbeiten zu gehen.

Meine älteste Tochter musste mit acht Jahren auf ihre kleinen Geschwister aufpassen. Als Kaltmamsell in einer Gaststätte, Waschfrau bei reichen Leuten und Fleischereiverkäuferin verdiente ich eine Mark die Stunde und hielt somit die Familie über Wasser. Außerdem waren die Krankenhaus- und Arztkosten zu zahlen. Letztendlich musste ich doch noch die Hilfe des Sozialamtes in Anspruch nehmen. Hatte ich vorher noch die Überzeugung, dass Mütter sozial anerkannte Personen seien, so wurde ich dort eines Schlechteren belehrt: Mittellose Mütter sind minderwertige und asoziale Personen, die nur die Gemeinschaft ausnutzen. Dort wurde bei mir die Grundlage meines späteren politischen Handelns gelegt.

Kurze Zeit später gingen wir in meinen Heimatort zurück. Mit Hilfe meines Vaters bauten wir ein Haus. Mein Mann absolvierte einen Meisterkurs und bekam einen festen, halbwegs gut bezahlten Arbeitsplatz. Ich arbeitete in der Landwirtschaft und beherbergte im Sommer Feriengäste.

Während dieser Jahre wurde mein Mann zum Alkoholiker. Er kam nur an den Wochenenden heim und ging dann seinen Interessen nach. Gemeinsame Interessen gab es nicht. Alle Angelegenheiten musste ich allein entscheiden. Meine Einsamkeit wurde durch die Kinder und das soziale Umfeld gemildert. Mehr und mehr flüchtete ich in ehrenamtliche und politische Arbeit. Dass dies eine Flucht war, begriff ich erst viel später. Nach und nach gingen die Kinder aus dem Haus (sie studierten in hessischen Städten) und ich ertrug die triste Situation immer schwerer. Ein Gespräch war irgendwann nicht mehr möglich. Er drohte mir mit Selbstmord, wenn ich ihn verlassen würde. Ich dachte überhaupt nicht an eine solche Möglichkeit, da ich die Philosophie meines Elternhauses verinnerlicht hatte: Wenn man einmal Ja gesagt hat, dann hat man dieses Ja zu halten und alles, was daraus folgt, zu ertragen.

Die Situation spitzte sich so zu, dass ich in eine tiefe Depression fiel. Meine Kinder drängten mich, die Hilfe eines Psychologen anzunehmen. Mit dieser Hilfe begann ich langsam, mich endlich wichtig zu nehmen und nicht nur immer an andere zu denken und für sie Verantwortung zu übernehmen. Schließlich kam der Zeitpunkt an dem ich soweit war, dass ich das mit meiner Hände Arbeit erstellte Haus verlassen konnte. Meine Schwester nahm mich auf. In den ersten Tagen nach meinem Weggang quälten mich schwere Alpträume, weil ich nicht sicher war, ob mein Mann seine Drohung wahr machen würde. Außerdem befürchtete ich, dass sich mein soziales Umfeld von mir abwendet. Es war schon eine krasse Ausnahme, wenn sich eine Frau aus meiner Generation in einem kleinen Dorf scheiden lässt. Die Kinder jedoch sprachen mir Mut zu und befürworteten die Trennung.

Meine feste Arbeitsstelle gab mir eine gewisse Sicherheit, nicht ins finanziell Bodenlose zu fallen. Ich suchte mir eine Wohnung, richtete mich auf Geheiß meiner Kinder neu ein. Meine Ängste verschwanden langsam. Mehr und mehr bemerkte ich, dass das Alleinsein auch schöne Seiten hatte, zumal meine Freundinnen und Freunde nach wie vor zu mir hielten.

Die Scheidungsauseinandersetzungen setzten mir sehr zu. Ich musste mehrere Kröten schlucken. Während einer gerichtlichen Berufungsverhandlung spürte ich die frauenfeindliche Einstellung der drei männlichen Richter sehr deutlich. Sie behandelten mich wie ein ungezogenes Mädchen. Weil ich einen Vergleichsvorschlag des Gerichtes nicht akzeptieren konnte, der mich überfordert hätte, schrie mich der vorsitzende Richter an, so dass man dieses Geschrei noch auf dem Flur hören konnte. Was blieb von dieser 33-jährigen Ehe an Positivem? Meine Kinder!

Später lernte ich meinen jetzigen Mann kennen und heiratete ihn Ende 2000. Mein Leben hat sich in jeder Hinsicht zum Guten gewendet. Mit großer Zufriedenheit kann ich auf die uns noch verbleibenden Jahre blicken. Heute frage ich mich manchmal, warum habe ich das Martyrium nicht zehn Jahre früher beendet? Dennoch, es war noch nicht zu spät. Viele Menschen haben mir geholfen, die Trennung und Scheidung zu verarbeiten. Ich bin ihnen sehr dankbar.

(Die Autorin möchte anonym bleiben. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.)

zurück

MATHILDE