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MATHILDE

Der Oakleigh Lane bei Tag. Selbst am Tag ist dieses Schild kaum zu erkennen, wie hätte ich es in völliger Dunkelheit und ohne Straßenlaterne entdecken können?

Auch die Häuser sind hinter hohen Hecken versteckt, so dass es mich nicht wundert, dass ich in der Dunkelheit das Gefühl hatte, fast nur durch Wald zu fahren.

Ankunft in einem fremden Land

oder

Die Hilfbereitschaft der englischen Polizei und anderer Leute

Es ist Nachmittag halb drei und Mitte Dezember – von Winter keine Spur. Ich bin auf dem Weg nach Canterbury, wohin mich eine Freundin eingeladen hat, und habe mir in den Kopf gesetzt, durch den Eurotunnel zu fahren, obwohl das die teuerste Möglichkeit ist, nach England zu kommen. In Folkstone am Meeting-Point will Dagmar mich abholen.

Das Ambiente im Touristencenter ist hübsch-hässlich. Daher warte ich ungeduldig, bis mein Zug Abfahrt 16:06 Uhr auf den Tafeln aufgerufen wird. Es folgt eine längere Anfahrt, bei der ich jedoch nichts falsch machen kann, die Einfahrt in den hinteren Teil des Zuges und durch mehrere Waggons. Ich schaue mich um. Die Anzeigeschrift sagt, dass ich im Waggon 18 fahre. Das sollen sich die Reisenden für den Notfall merken.

Fünf Autos passen in ein Abteil. Die Türen zwischen den Abteilen werden sofort geschlossen, nachdem wir durch die oberen Etagen eingefahren sind. Pünktlich setzt sich der Zug in Bewegung und verschwindet bald darauf im Tunnel. Er fährt so ruhig, wie halt ein Zug fährt. Ein leichter Druck legt sich auf meine Ohren. Ich lese die Sicherheitsvorschriften, die etwa so interessant und erhebend sind wie die in einem Flugzeug. Noch tropft kein Meerwasser durch das Autodach. Zur Not hätte ich meinen Badeanzug und Gummistiefel dabei. Die 35 Minuten sind schnell vorbei. Die Dauer des Vergnügens steht in keinem Verhältnis zum Preis (468€).

Nachdem ich vorne aus dem Zug herausgefahren bin – es ist nur ein Abteil vor dem unsrigen – fahre ich natürlich zuerst einmal rechts, zum Glück fahren im Augenblick alle noch in die gleiche Richtung. Eine Tankstelle taucht auf, doch nirgendwo gibt es einen Meeting-Point. (Später wird Dagmar mir mitteilen, dass der „meeting point“ „service point“ heißt und dass sie ihn auch nur schwer gefunden hat.) Die Polizisten, die an der Seite stehen und dafür sorgen, dass die Festlandeuropäer die Straßenordnung nicht durcheinander bringen, kennen leider auch keinen „meeting point“.

Was soll ich tun, wo und wie soll ich Dagmar suchen? So beschließe ich nach Canterbury zu fahren, zumal ich das dringende Bedürfnis habe, erst einmal in beruhigtere Verkehrszonen zu kommen. Leider gerate ich schon bald auf Abwege, in kleine enge Sträßchen, in denen sich kaum zwei Autos begegnen können, in irgendeiner Landschaft.
Es gibt nur noch ein Vor, kein Zurück mehr, bis mir ein Polizeiauto entgegenkommt, glücklicherweise an einer Stelle, an der ich knapp ausweichen kann. Ich winke ihnen anzuhalten und erkläre, wohin ich will, dass „my girl friend wanted to pick me up“ und dass wir uns aber verpasst haben. Sie bedeuten mir zu warten, fahren an mir vorbei, wenden irgendwo, kommen zurück, fahren jetzt vor mir her und führen mich bis auf eine richtige Straße. Ich bitte sie, Dagmar anzurufen, gebe ihnen ihre Telefonnummer, doch weder der Anruf bei ihr zu Hause (na klar, sie ist ja unterwegs) noch ihre Handynummer bringen den gewünschten Erfolg. Der Bobby scheint meine Hilflosigkeit zu spüren, sucht in seinen Straßenkarten und schreibt haargenau auf, wie ich den Oakleigh Lane, in dem Dagmar wohnt, finden kann.

Es ist längst dunkel geworden. Nieselregen setzt ein. Die A 260 und dann die A 2 finde ich leicht und fahre in Canterbury auch richtig von der Autobahn ab, doch in Canterbury ist es sehr bald wieder vorbei mit der Orientierung. Linksfahren, die Verkehrsschilder beachten, den folgenden Verkehr nicht über Gebühr behindern, das alles ist zu viel auf einmal. Außerdem ist die Beleuchtung im Auto ausgefallen, so dass ich nur bei guter Straßenbeleuchtung auf meinen Zettel gucken kann. Ich halte an und bitte einen Passanten auf der linken Straßenseite um Hilfe. Er studiert aufmerksam die Notizen der Polizei, erklärt mir, wie ich weiterfahren soll, das nächste Abbiegen und die nächsten beiden Ampeln sind richtig. Doch dann finde ich wieder nicht, was mir erklärt worden ist.

Ich bin längst außerhalb von Canterbury, das kann gar nicht mehr richtig sein. So biege ich in einen Seitenweg ein und beschließe, an einem erleuchteten Haus zu klingeln. Ich sehe einen Engländer, der gerade einen Brief in einen Briefkasten wirft, und bitte nun diesen um Hilfe. Auch er studiert aufmerksam die Polizeinotizen, sagt mir, dass ich gar nicht so falsch bin und wo ich weiterfahren soll. Trotz aller Panik hege ich die Hoffnung, bei jeder Fragerei dem Ziel etwas näher zu kommen und Dagmars Wohnung noch an diesem Abend zu erreichen.

Als nächstes finde ich eine Tankstelle. Dort will ich Dagmar anrufen und sie bitten, mich abzuholen. Hier begegnet mir der erste unwillige Mensch in diesem Land. Der Tankwart hat offensichtlich keine Lust, sich mit einem so merkwürdigen Fall zu befassen, er sagt, dass er die gesuchte Straße nicht kennt. Damit ist die Sache für ihn erledigt. Doch ein Kunde nimmt eine Straßenkarte aus dem Regal, schaut nach und sagt mir, die Straße sei schwierig zu finden, er müsse ungefähr in diese Richtung fahren, und bietet mir an, vor mir herzufahren. Ich klammere mich hinter die Autonummer „GL18 UEW“.

Irgendwann fährt er auf die Seite und hält an. Er gibt mir zu verstehen, dass auch er den Oakleigh Lane nicht finden kann. Er versichert mir jedoch, dass der Oakleigh Lane eine Seitenstraße dieser Straße ist, und teilt mir mit, dass er jetzt weiterfahren muss. Ich bedanke mich und bin wirklich froh, wenigstens in der Nähe meines Ziels zu sein. Ich fahre die Straße zurück, finde überhaupt keine Seitenstraße und versuche noch einmal, an einem hell erleuchteten Haus zu klingeln. Doch ehe ich tätig werde, meldet sich mein Handy. Ich habe es bisher nicht benutzt, weil der Akku bedrohlich niedrige Werte anzeigt. Es ist Dagmar. Ich bin erleichtert. Sie will wissen, wo ich denn stecke, und ist wohl auch erleichtert, dass ich ganz in der Nähe bin. Sie sagt, dass sie jetzt zur Straße gehen und dort auf mich warten wird. Ich fahre die Straße zum dritten Mal ab, finde keine Dagmar und wende erneut. Ich will nun doch die Akku-Reserve riskieren und Dagmar von mir aus anrufen. Doch ehe ich sie anwähle, meldet sie sich wieder und sagt mir, ich sei an ihr vorbeigefahren. Aufgrund meiner Beschreibung stellt sie fest, dass ich vor einem Altenheim stehe, und kann mich gerade noch anweisen, in welche Richtung ich fahren soll. Das Gespräch bricht ab.

Später stellen wir fest, dass beide Akkus gleichzeitig ihren Geist aufgeben haben. Ich fahre die Straße nun zum vierten Mal ab. Bald sehe ich sie mit einer Taschenlampe winken. Später erfahre ich von Dagmar, dass sie inzwischen eine andere Handynummer hat. Also konnte die Polizei sie nicht erreichen, selbst dann nicht, wenn sie nicht vergessen hätte, ihr Handy einzustecken. So hatte sie erst heimfahren müssen, denn meine Handynummer wusste sie nicht auswendig. Die war auf ihrem Handy gespeichert. Vom Eurotunnel aus habe ich dreieinhalb Stunden gebraucht, bei guter Ortskenntnis hätte eine gute halbe Stunde ausgereicht. Am nächsten Tag laufe ich die ganze Straße bis zur A 257 und schaue mir alles bei diesigem Wetter und Tageslicht an. Im Hellen wäre ich sicher mit der Hälfte der Zeit ausgekommen. Das Schild zum Oakleigh Lane ist als Fotomotiv wohl sehr attraktiv, doch in der Dunkelheit und ohne Straßenbeleuchtung kaum in der Lage, Fremden den Weg zu weisen, zumal der Oakleigh Lane keine Straße, sondern ein unbefestigter Weg ist, der genau so gut auf einen Acker führen könnte.

Margret W.-Simon

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