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MATHILDE

 

Keto von Waberer
Schwester
Berlin Verlag, Berlin 2020
3-8270-0485-3
16,00 €

Die Schwester als Gegenpol

Nie habe ich andere Menschen mit so kritischen, kalten, bösen Augen betrachtet wie sie - und mich." Die Erzählerin spricht von ihrer Schwester, der fünf Jahre älteren geliebten, vertrauten, bewunderten, verbündeten, beneideten, fremden und gehassten Schwester. Alle diese Gefühle ziehen sich durch das gemeinsame Leben beider Frauen. Die Schwester ist nun seit zwei Jahren tot, und die Erzählerin erinnert sich. Die Erinnerungen sind schön und schmerzvoll zugleich.

In den letzten Kriegsjahren geboren, wachsen beide Mädchen in den Aufbaujahren in Deutschland in einer Familie auf, in der der Vater absoluter Patriarch, die Mutter absolute Behüterin der Familie und insbesondere der kranken Schwester ist. Beide Schwestern sind sehr unterschiedlich. Die Ältere ist blond und hellhäutig, gleicht der Mutter. Sie ist immer kränklich, empfindsam, kann sich von der Mutter niemals lösen. Die Erzählerin ist burschikos, sie nimmt in der Familie die Rolle des nicht gehabten Sohnes ein. Nachdem sie bei einem heimlichen Liebesabenteuer mit einem jungen Mann von ihren Eltern erwischt wird, kommt sie in ein Internat. Zu dieser Zeit beginnt auch ihre Loslösung von der Familie, die aber auch sie niemals ganz schafft.

Während die beiden Schwestern, als Kinder enge Verbündete waren, entfremden sie sich nun immer mehr. Eifersucht und das Unvermögen miteinander zu sprechen ist die unüberwindbare Hürde, die die Schwestern nie mehr zueinander finden lässt. Mit dem Schreiben der Geschichte nähert sich die Erzählerin nach dem Tod der Schwester wieder an. Die Erinnerungen kommen in Schüben, ebenso sind die Kapitel des Buches angelegt: Situationen des Lebens mit der Schwester werden fokussiert, Gefühle aufbereitet. Es formt sich ein Bild, das die Schwester schließlich als Gegenpol des eigenen Ichs herausfiltert, einem Gegenpol, der lebensnotwendig war und ist.

Keto von Waberer schreibt ein sehr persönliches Buch, sehr offen und analytisch. Mit ihrer Sprache schafft sie es, Gefühl und distanzierte Beobachtung gleichermaßen zu verbinden.

Gabriele Merziger

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